Leky und Ortheil eröffneten im Gespräch Westerwälder Literaturtage
Von Helmi Tischler-Venter
Die Autoren Mariana Leky und Hanns-Josef Ortheil führten am Sonntag, 2. Mai im Kulturwerk Wissen in einem unterhaltsamen Gespräch über den Norden in das Thema des Westerwälder Literatursommers 2021 „Nordlichter“ ein.
Wissen. Die Veranstaltung, die live mitverfolgt werden konnte, wurde durch den Altenkirchener Landrat Peter Enders im Namen seiner Kollegen der Kooperative „Wir Westerwälder“ eröffnet. Enders dankte besonders dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil und der Buchhändlerin Maria Bastian-Erll, die vor 20 Jahren die Literaturtage aus der Taufe hoben und seither unzählige Arbeitsstunden in die Organisation investierten. In den zwei Jahrzehnten habe sich das größte Literaturfestival des Landes kontinuierlich weiterentwickelt und meistere auch die Herausforderungen durch Corona mit kreativen Lösungen und einem treuen Publikum, das seit dem letzten Jahr Literatur neu für sich entdeckt habe.
Professor Dr. Konrad Wolf, Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz, dankte in seinem Grußwort auch Timo Fiebach (Technik) und Dominik Weitershagen (Leitung) vom Kulturwerk Wissen für den technischen Support. Das Thema „Nordlichter“, das in diesem Jahr fortgeführt wird, weil viele Veranstaltungen in 2020 nicht stattfinden konnten, solle anregen, Kunst, Kultur und Lebensart des Nordens kennenzulernen.
Dass hier noch viel Nachholbedarf besteht, zeigte sich gleich zu Beginn des Gesprächs zwischen den Autoren Mariana Leky und Hanns-Josef Ortheil, die beide die nordischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland noch nicht bereist haben. Die beiden Schriftsteller kennen sich seit langem und sind miteinander gut befreundet, erkennbar daran, wie sie im Gespräch empathisch aufeinander eingingen. Beide wurden in Köln geboren und haben familiäre Wurzeln im Westerwald.
Aber das Urlaubsverhalten der Eltern war immer auf gutes Wetter und somit auf den Mittelmeerraum ausgerichtet. Leky erzählte, dass sie auf langen Autofahrten immer Lutz Görners Rezitationen von Gedichten für Kinder gehört habe, unter anderem „Landregen“ von Isolde Kurz, das einen Ausblick gibt, wie das Wetter im Norden sein könnte.
Ortheil bestätigte: „Wir sind mittelmeerig erzogen“, denn das Mittelmeer war sagenumwoben und zuverlässig sonnig. Der Norden ist eine Erfindung, eine Fantasie, ein kulturelles Konstrukt…
Die Autoren waren sich einig, dass es nun an der Zeit sei, in den Norden zu fahren und sie bereiteten gedanklich und literarisch eine Reise vor: in einem riesigen Wohnmobil und mit temporärer Begleitung von Kindern.
Grundlage für die Vorbereitung war das Buch von Bernd Brunner: „Die Erfindung des Nordens“, in dem August Wilhelm Schlegel über die Bedeutung der Himmelsrichtungen nachdenkt und dem Norden das Bild der Strenge und des Ernstes, der Philosophie und Wissenschaft zuspricht.
Mariana Leky zitierte zum Aufbruch nach Norwegen aus Isidora Sekulićs „Briefen aus Norwegen“, in denen die Autorin eine Hochzeitsreise beschreibt, offenbar mit einem erfundenen Bräutigam. Das Buch begeistert Leky vor allem mit schönen Bildern von Norwegen als Land ohne Humor und Charme mit faszinierender Unzugänglichkeit.
Hanns-Josef Ortheil bricht nach Schweden auf nach der Broschüre „25 Autotouren in Schweden“, das ohne Nennung des Autors vom Motorverband Schwedens 1939 herausgegeben wurde und sich nach Recherche als erstes Buch Astrid Lindgrens erweist. Diese war Journalistin und Sekretärin des Automobilclubs. Wunderbar detailliert erklärt sie jeden Kilometer. Ortheil möchte die Tour 10 durch Värmland auf Lindgrens Spuren erfahren. Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“ sieht Schweden von oben.
Zu dem von Ortheil angesprochenen Mythos, dass jeder Nordländer eine Hütte am See besitze, in die er sich gern zurückziehe, wurde Knut Hamsuns 1894 geschriebenes Buch „Pan“ vorgestellt als Urzelle für diese Idee. Leky fand, dass sie zwar mitfühlen konnte mit dem Panschen Wesen, aber da der Protagonist gleich drei Beziehungen führt, gerate das Ganze stressig: „Mir hat sich diese Beziehungsdynamik nicht so richtig erschlossen!“
Ortheil gestand, dass er Stellen, die ihm nicht gefallen, einfach überblättert. So habe er den ganzen Beziehungskram nicht registriert, weil ihm der Mythos der Hütte wichtig war. Als Gegenmodell und zweites Hütte am See-Beispiel stellte er „Reise mit Wittgenstein in den Norden/ Ludwig Wittgenstein: Denkbewegungen. Tagebücher“ von David Hume Pinsent vor. Wittgenstein war 1913 als Student für Mathe, Physik und Philosophie und begeisterter Norwegenreisender mit einem Freund auf Reise. Zum Schreiben der Tagebücher diente die Hütte. In den Folgejahren suchte Wittgenstein immer wieder die Hütte auf und schrieb dort seine philosophischen Gedanken zur Sonne und zu Gott nieder. Jede Äußerung wird vom Autor infrage gestellt und wieder aufgehoben. „Der selbstzerstörerischste Text, den ich je gelesen habe“, urteilte Ortheil.
Nach einer musikalischen Unterbrechung - jeder Abschnitt wurde mit Klavierstücken von Edvard Grieg oder Jean Sibelius beendet - fuhren die beiden Autoren gedanklich in den Hohen Norden, nach Lappland. Ortheil beginnend mit Carl von Linné: „Lappländische Reise“, der Naturforscher fuhr 1732 mit geringer Ausstattung - zum Beispiel ein Hemd, eine Pistole und viel Papier - nach Lappland, um Pflanzen, Tiere und das Brauchtum der Samen (Volksgruppe) zu studieren.
Leky: las aus „Wandern durch Lappland“ von Sigrid Damm, für die Wandern ein stiller Rausch ist, der Verlag beschreibt es als „Aneignung des Lebens durch das Gehen“. Damms Sohn bricht leicht versetzt auf die gleiche Reise auf und kauft ein Häuschen, in dem Sigrid Damm ihre Schreib-Heimat findet.
Dann beschließen die Gesprächspartner: „Wir sind schon lange unterwegs und wir sind hungrig.“ Unterwegs etwas essen, nordische Ernährung kennenlernen wollen, ist Anlass für die Beschäftigung mit den 80 Anregungen im Astrid Lindgren Kochbuch, das Rezepte wie „Karlssons Wochenschmaus“ enthält.
Als Klassiker des Nordens tauchen immer wieder mythische Wesen auf: Trolle, Zwerge, Aufhocker, Walddamen, grausame nordische Meerjungfrauen. Mariana Leky, die in ihrem Westerwald-Roman „Was man von hier aus sehen kann“, ähnliche mythische Figuren integriert, stieß auf diese Wesen durch die Edda, die Urschrift zu Johan Egerkrans „Wesen des Nordens“. Naturwesen sind launisch und nachtragend und müssen daher immer bei Laune gehalten werden.
Ortheil stellte als Pendant den auf der realen Ebene der Mythen spielenden Klassiker des Nordens „Der Königsspiegel. Fahrten und Leben der alten Norweger“, aufgezeichnet im 13. Jahrhundert, vor. In einem Gespräch zwischen Vater und Sohn zu allen Fragen des Lebens wird der gesamte Glaubens- und Wissenstand des alten Norwegens um 1250 dargestellt. Erstaunlich war für beide Literaten die Erkenntnis, dass es Skier in Kombination mit Jagdausrüstung damals bereits gab.
Das Schlussgespräch hatte einige Gemälde des Nordens zum Thema: Das faszinierende Haus von Karin und Carl Larsson, das von dem Ehepaar immer weiter ausgebaut und als Malmotiv genutzt wurde. Hanns-Josef Ortheil bekannte, dass die Methode, das Gesehene immer gleich in Skizzen festzuhalten, seiner Arbeitsweise sehr nahe ist. Auch ein gemeinsames Buch entstand: „Das Haus in der Sonne“. Das Interieur ist schwedisches Design, Bullerbü entlehnt und später durch Ikea vervielfältigt.
Das letzte Gemälde des Nordens ist eine von Edvard Munch 1906 gemalte „Winterlandschaft aus Thüringen“, die dem „norwegischen Autor, der uns in der Gegenwartsliteratur am meisten beschäftigt“, Karl Ove Knausgård als Ausgangspunkt für eine Beschreibung dient: „So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche!“ Knausgård stellt fest, der unfertige Zug trage dazu bei, dem Bild einen Charakter zu geben. Das Grundgefühl sei Einsamkeit:
Das Gespräch der beiden Schriftsteller war anregend und initiierte Reiselust nach den Ländern des Nordlichts, die so viele faszinierende geographische und kulturelle Facetten aufweisen. Und Lust auf die kommenden Veranstaltungen des Westerwälder Literatursommers, die die Kenntnis noch erweitern werden. htv
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