Vom Wäller Aufbruch in die neue Welt
Bei der 6. Ausgabe der Weyerbuscher Gespräche der Westerwald Bank beleuchtete der Betzdorfer Wissenschaftler Dr. Thomas Bartolosch die Auswanderer-Bewegung zur Zeit Raiffeisens. Zwischen 1815 und 1914 folgten insgesamt 5,5 Millionen Deutsche dem Ruf der neuen Welt - auch zahlreiche Westerwälder.
Weyerbusch. „Jetzt ist die Zeit und Stunde da, wir fahren nach Amerika.“ Nein, mit diesem Aufruf ging es nicht um die täglich via TV zu beobachtenden Auswanderer der Gegenwart bei der Herbstausgabe der Weyerbuscher Gespräche der Westerwald Bank im Raiffeisen-Begegnungs-Zentrum. Es war bereits die sechste Veranstaltung dieser Art. Vielmehr beleuchtete der Referent, Dr. Thomas Bartolosch von der Universität Siegen, die Auswanderer-Bewegung zur Zeit Friedrich Wilhelm Raiffeisens.
Hatte es im 18. Jahrhundert bereits zahlreiche – und damals meist illegale – Auswanderungen gegeben, setzte die große Welle im 19. Jahrhundert ein. In der Zeit von 1815 bis zu Kriegsbeginn 1914, so der in Betzdorf lebende Historiker mit den Schwerpunkten in der regionalen Wirtschafts-, Sozial und Zeitgeschichte, hätten rund 5,5 Millionen Deutsche sich für ein Leben in der neuen Welt entschieden. Die Gemeinde Sespenroth in der Nähe von Montabaur im Gelbachtal löste sich 1853 sogar auf, nachdem sämtliche 48 Bewohner ihren Besitz verkauft hatten und nach Milwaukee ausgewandert waren. Zu den Nachfahren der Sespenrother Auswanderer zählt Kathy Barr aus Indianapolis, die Bankvorstand Paul-Josef Schmitt in Weyerbusch begrüßte. Sie war als Mitglied der deutsch-texanischen Gesellschaft Montabaur-Fredericksburg im Westerwald zu Gast.
Rund 3000 Menschen brachen allein im Jahr 1854, dem mit rund 220.000 Auswanderungen aus ganz Deutschland stärksten Auswanderungsjahr, aus dem damaligen Herzogtum Nassau nach Amerika auf. Für den seinerzeit preußischen Landkreis Altenkirchen gibt es derzeit leider keine aufgearbeitete Statistik, die eine verlässliche Aussage über die Zahl der damaligen Emigranten zulässt. Als sicher darf laut Bartolosch allerdings gelten, dass es nicht die Masse der Mittellosen war, die Deutschland den Rücken kehrte, sondern vorwiegend diejenigen, die noch Eigentum in Startkapital für die Überfahrt und den Start in das neue Leben umwandeln konnten.
Der Westerwald, so die Ausführungen Bartoloschs, durfte damals als klassische Auswandererregion angesehen werden: So waren es unter anderem das ungünstige Klima und schlechte Bodenverhältnisse, die immer wieder zu Missernten und wirtschaftlicher Not der Landbevölkerung führten. Während Raiffeisen mit der Gründung seiner ersten Hilfsvereine sowie Initiativen für Bildung und Infrastrukturprojekte auf die Fragen der Zeit reagierte, sahen viele Westerwälder keine Perspektiven mehr. Dazu kam die damals verpflichtende Realteilung der landwirtschaftlichen Anwesen, die es den nachfolgenden Generationen fast unmöglich machte, ihr Einkommen zu sichern. Paul-Josef Schmitt hatte bereits bei der Begrüßung einen weiteren Grund für die Auswanderungen angedeutet: „Im Gegensatz zu Deutschland, das bei eher geringen Ressourcen einen Überschuss an Arbeitskräften hatte, mangelte es in den rasch empor strebenden USA an arbeitsfähigen Menschen.“
Schließlich machte Bartolosch noch einen weiteren Antrieb aus, der die Menschen dazu brachte, die beschwerliche Reise von den Höhen des Westerwaldes in die Vereinigten Staaten - Kanada, Südamerika oder Australien galten als weniger begehrte Ziele - anzutreten: „Man lebte mit dem Vorurteil, dass die Bedingungen im Westerwald schlechter seien als anderswo. Aber so viel schlechter als in anderen Mittelgebirgsregionen war es gar nicht. Insofern spielte hier auch die Psychologie eine Rolle.“
Informationen, die die Bevölkerung von bereits ausgewanderten Angehörigen per Brief erhielt, trugen dann ihren Teil dazu bei, dass immer mehr Menschen dem Ruf der neuen Welt folgten. Zeitgleich, so Bartolosch, verzeichnete man ein Wachstum der Ratgeber-Literatur rund um die Auswanderung, die über Reise-, Siedlungs- und Arbeitsmöglichkeiten informierte. Allein 62 Briefe von Arthur Müller, der seinen Namen bald in Miller amerikanisierte und aus Langenbach bei Kirburg stammte, beschreiben dessen Leben in den USA, wo er zunächst als Bergmann in den Rocky Mountains arbeitete und später durch Gründung einer Autowerkstatt zu bescheidenem Wohlstand gelangte. Fotografien von Briefen, Titelblätter der Emigranten-Literatur und Plakate, die die Auswanderer schon in den nordamerikanischen Häfen begrüßten und auf Arbeitsmöglichkeiten verwiesen, illustrierten den Vortrag Bartoloschs.
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