Buchtipp: „Rabeninsel“ von Sigrid Kleinsorge
Sigrid Kleinsorge setzt mosaikartig eine Familienaufstellung zusammen, die damit beginnt, dass Ruth, eine ältere Dame, einen Brief von einer ihr Unbekannten erhält, die fragt, ob sie verwandt seien. In den Unterlagen des kürzlich verstorbenen Vaters der Absenderin befinden sich Hinweise auf eine Namensänderung des Vaters.
Dierdorf/Karlsruhe. Ruth hatte ihren geliebten Bruder sechzig Jahre lang vermisst. Sie hatte den Bruder bewundert, weil er sie beschützte und mit auf die Rabeninsel nahm, das Paradies ihrer Kindheit. Sie hatte nicht an die Aussage ihrer Familie geglaubt, dass er tot sei. Nun weiß sie, dass er fünfundsiebzig Jahre alt wurde, dreimal heiratete und vier Kinder hat. Im Stammbaum sitzt dieser Bruder und Vater wie die Spinne im Netz, von der alle Fäden weg oder hin führen.
Ruth ist selbst in einer zerrütteten Familie aufgewachsen, in der eben dieser Bruder verschwand, der eigene Vater in den Westen ging und später auch die ältere Schwester folgte.
Die Kinder freuen sich, dass Ruth kontaktbereit ist und sich über den Familienzuwachs freut. Der älteste Sohn des Bruders ist dem Vater am ähnlichsten und verachtet ihn am meisten. Wie sein Vater war er ein ungewolltes Kind, das vergeblich um Liebe bettelte. Wie dieser brilliert er mit Können und Fleiß und gerät doch mit dem Gesetz in Konflikt.
Statussymbole sind mehreren Generationen wichtig. Ähnlichkeiten sind frappierend. Es bleiben trotzdem viele Fragen offen: Warum ging der Bruder in die DDR zurück? Warum änderte er seinen Nachnamen? Was für ein Mensch war er wirklich? Welche Beweggründe hatte er für sein Handeln? Von allen Seiten wird an den Antworten gepuzzelt. Alle Familienmitglieder, lebend und verstorben, bringen immer wieder ihre Sichtweisen ein.
Sind Familien-Gene ein Segen oder Fluch? Das familiäre „Fort“-Gen hat alle erfasst, denn keine Beziehung funktioniert lange und ständige Umzüge sind die Regel.
Die politischen Systeme - KuK-Monarchie, Nazi-Diktatur, DDR und Bundesrepublik Deutschland, schließlich die Wende - haben Auswirkungen auf die Familienstrukturen, spätestens seit Ruths Großeltern aus Österreich-Ungarn nach Wien zogen. Trotz veränderter Zeit und Region wiederholt sich vieles. Ruth stellt fest: „Wenn ich über das Leben meines Bruders nachdachte, erschien mir alles wie eine Wiederholung. Sein Leben und das Leben meines Vaters verschwammen manchmal zu einem einzigen Leben.“ Und hüben wie drüben gibt es in jeder Generation eine liebe Verwandte, die mit ihrer Fürsorge ein Kind aus der Vereinsamung rettet.
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Im Gespräch miteinander klären sich etliche Mysterien und Peinlichkeiten. Andererseits ist das Wegziehen der Verdrängungs-Decke oft schmerzhaft. Ruth fragt sich oft, „warum es in Familien so viele Geheimnisse gibt, Dinge, die geschehen sind und nicht ausgesprochen werden.“ Jeder will das Beste und wechselt dafür auch schon einmal die Seiten. Die Weichen neu zu stellen, gelingt nicht immer. Alle suchen den richtigen Weg im Leben, ohne ihn zu finden und sich das einzugestehen.
Das große Treffen mit der neu gewonnenen Familie soll in Halle stattfinden, in Ruths und ihres Bruders Geburtsstadt, auf der Rabeninsel.
Die Autorin Sigrid Kleinsorge wurde 1940 in Halle geboren, wechselte später in die BRD. Sie kennt die ehemalige DDR sowie die Stadt Halle und die von ihr beschriebenen Plätze und Institutionen. Daher wirkt der Roman sehr authentisch, zumal schicksalhaft verbundene oder getrennte Familien, wie die von ihr geschilderte, überall leben.
Das Taschenbuch ist erschienen im Lauinger Verlag, ISBN 97837650-9142-1 und als EBook, ISBN 97837650-9143-8. (htv)
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