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Nachricht vom 11.11.2021    

Gedenken zur Pogromnacht in Betzdorf: „Denn erst sind es Worte, dann folgen Taten“

Es war ein stilles Gedenken und Erinnern, es waren aber auch mahnende Worte, klare Kante zu zeigen und „heute gemeinsam allen Formen von Judenfeindschaft und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten“: Anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht wurde der im Holocaust ermordeten beziehungsweise verschollenen Betzdorfer Juden gedacht.

Traditionell werden am 9. November in Betzdorf an der Säule mit der Gedenkrosette Kränze niedergelegt. (Fotos: tt)

Betzdorf. Man gedenke an diesem 9. November an eine der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte, sagte Stadtbürgermeister Benjamin Geldsetzer, und zwar an das Pogrom, welches im November 1938 an jüdischen Deutschen verübt wurde. Er appellierte, sich für Toleranz, Respekt und Mitgefühl stark zu machen. Wie im Vorjahr konnte pandemiebedingt auch am 83. Jahrestag der Reichspogromnacht nur in einem kleinen Kreis vor Ort sich der Gräueltaten erinnert und der Opfer gedacht werden. Was sich im November 1938 ereignete, endet schließlich im Holocaust. Es waren jeweils zwei Vertreter der Fraktionen im Stadtrat eingeladen. Der Betzdorfer Geschichteverein (BGV) nahm mit Vertretern an der Gedenkfeier teil, ebenso die türkische Gemeinde Betzdorf. Altbürgermeister Michael Lieber, der in seiner Betzdorfer Amtszeit jährlich an der Gedenkrosette gesprochen hatte, war ebenfalls anwesend – unweit von der Stelle, wo einst das Bethaus der Betzdorfer Juden stand.

Vierstellig sei die Zahl der zerstörten Synagogen und Bethäuser gewesen, tausende Geschäfte und Betriebe seien demoliert worden: Die Bilanz in Deutschland sei verheerend gewesen, sagte der Stadtbürgermeister – und: „Im Kleinen spielten sich auch hier bei uns in Betzdorf furchtbare Szenen ab.“ So hätten Nazianhänger vor den Augen der anwesenden Bevölkerung Geschäfte, die von jüdischen Familien betrieben wurden, boykottiert und beschmiert. „Keiner von uns war damals dabei“, sagte er – aber: „Doch die Verantwortung für dieses Erbe bleibt.“ Wenn man sich aufmerksam umschaue, dann werde deutlich, dass auch gerade heute ein Gedenken an das Inferno des 9. und 10. November 1938 sinnvoll und notwendig sei. „Die Ereignisse des 9. November zeigen, dass Rechtsstaat und Demokratie keine Errungenschaften sind, die einmal erworben werden und dann selbstverständlich sind“, sagte Geldsetzer: „Die rechtsstaatliche Demokratie war und ist eine gefährdete Staatsform.“

Für Geldsetzer steht fest, dass der demokratische Rechtsstaat voraussetzt, dass sich die Menschen im Alltag mit Respekt, Fairness und Wohlwollen begegnen, dass sie füreinander Verantwortung übernehmen und sich auch im Streit um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen: „Wo diese Werte missachtet werden, gerät friedliches Zusammenleben in Gefahr.“ Die Bilder von zerstörten Synagogen und verwüsteten jüdischen Geschäften aus dem November 1938 seien Teil der deutschen Erinnerungskultur, sagte Geldsetzer, der in seiner Rede mahnte und Klartext sprach: „Auch heute müssen wir gemeinsam allen Formen von Jugendfeindlichkeit und Antisemitismus entschieden entgegentreten.“ Antisemitischen und rassistischen Ressentiments dürfe kein Platz geboten werden. „Denn erst sind es Worte, dann folgen Taten.“

„Wir dulden keine rechtsextremistischen und antisemitischen Parolen.“
Deutlich auch seine Bitte, Position zu beziehen und sich stark für Toleranz, Respekt und Mitgefühl zu machen. Für all das sei es bereits viel zu spät gewesen, als damals die Synagogen brannten. Der Weg zur systematischen Vernichtung der Juden Europas sei unaufhaltsam und mit schweigender Billigung von weiten Teilen der Bevölkerung eingeschlagen worden. „Wir dulden keine rechtsextremistischen und antisemitischen Parolen“, sagte Geldsetzer, und gegen diese müssten die staatlichen Institutionen konsequent vorgehen. Wert und Würde eines Menschen seien unantastbar, unterstrich Geldsetzer: „Solange wir uns daran festhalten und das aktiv leben, haben wir die Chance auf ein friedliches Miteinander.“

Trotz ihrer schrecklichen Vergangenheit habe man die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano mit einer beeindruckenden Kraft und Vitalität erlebt: An den Besuch Bejaranos, die im Sommer im Alter von 96 Jahren gestorben ist, vor drei Jahren in der Stadthalle Betzdorf erinnerte sich Horst Vetter von Bündnis 90/Grüne. Er erwähnte, was Bejarano erlebt hatte. 1943 kam Bejarano ins Vernichtungslager Auschwitz, wo ihr die Häftlingsnummer 4 19 48 tätowiert wurde. „Sie war kein Mensch mehr, nur noch eine Nummer“, sagte Vetter, der schilderte, warum sie überlebt habe: Nur, weil sie im Mädchenorchester des Lagers Akkordeon spielte.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg 1960 zurück in Deutschland, habe sie es als ihre Aufgabe angesehen, mit ihren Erinnerungen gegen das Vergessen, besonders bei der Jugend, anzugehen und vor den Gefahren des Rechtsextremismus zu warnen. Sie habe Wert daraufgelegt, die Kontinuität und Nachwirkung des Rassismus des Nationalsozialismus anzuprangern und zu bekämpfen und sich mit den Opfern anderer Kulturen zu solidarisieren.



„Tatsächlich zieht sich eine blutige Spur des rechten Terrors durch die bundesdeutsche Geschichte, zuletzt die Anschläge in Halle und Hanau gegen jüdische und muslimische Menschen“, sagte Vetter: „Demokratie ist nicht für alle Zeiten gesichert.“ Vor Schulklassen habe die Holocaust-Überlebende Bejarano immer wieder gesagt: „Ihr seid nicht schuld an dieser schrecklichen Zeit, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über die Geschichte wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.“ Vetter zitierte auch aus Bejaranos letztem Aufruf: „Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Deshalb, unterstrich Vetter, sei es wichtig, dass „wir“ hier alljährlich an den 9. November 1938 als Beginn des Holocaust erinnern und im Sinne von Esther Bejarano ein Zeichen setzen, „dass bei uns kein Platz mehr sein darf für Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie“.

„Wir dürfen nicht vergessen, wir müssen erinnern“, sagte Gerd Bäumer (links). Mit im Bild Benjamin Geldsetzer (Mitte) und Horst Vetter (rechts).


„Mehr als 20 Juden aus Betzdorf haben den Völkermord nicht überstanden.“
BGV-Geschäftsführer Gerd Bäumer blickte auf die Jahre vor der schrecklichen und verheerenden Reichspogromnacht und schilderte, welchen Repressalien die Betzdorfer Juden da bereits ausgesetzt waren. Ab April 1933 sei zur Auflage gemacht worden, nichts mehr in jüdischen Geschäften zu kaufen. Dem millionenfachen Leid gab Bäumer mit der Schilderung von Einzelschicksalen ein Gesicht beziehungsweise einen Namen, und zwar mit Julius Sonnenberg und Saul Hausmann. Die beiden Betzdorfer Juden seien auf offener Straße verhaftet worden, weil sie angeblich die Frau eines Nationalsozialisten angepöbelt haben sollen, sagte Bäumer.

„Juden sind in Betzdorf unerwünscht!“: Das sei 1935 auf einem Schild am Betzdorfer Bahnhof zu lesen gewesen. Am Gymnasium habe ein ähnliches Schild geprangt, so Bäumer: „Natürlich hatte die Schulen auch stramme Parteigenossen als Lehrer.“ SA-Leute hätten vor den Geschäften gestanden und die Kundschaft vor den jüdischen Inhabern gewarnt. Bäumer skizzierte, was sich in den Jahren vor der Reichspogromnacht bereits ereignete und konstatierte: „Bis 1938 waren die jüdischen Bürger aus Betzdorf verzogen.“ Einige seien dann aus ihren Fluchtorten in Konzentrationslager deportiert worden: „Mehr als 20 Juden aus Betzdorf haben den Völkermord nicht überstanden.“

„Das, und viel mehr, ist geschehen. Das steht fest“, betonte Bäumer. Auch heute noch habe Betzdorf keine jüdische Bevölkerung mehr. „Ihre Kultur wäre hier sicherlich eine große Bereicherung, sie fehlt uns“, sagte der Geschäftsführer. Er spannte den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart und betonte: „Wenn es geschehen ist, kann es wohl auch wieder passieren. Und genau das muss verhindert werden.“ Es müsse davon erzählt werden und der Jugend davon berichtet werden, damit es eben nicht mehr geschehe. „Das ist unsere Pflicht, das ist unsere Aufgabe.“ Bäumer stellte heraus, dass genau deshalb an diesem Ort am 9. November die Gedenkfeier stattfinde: „Wir dürfen nicht vergessen, wir müssen erinnern.“

Stille Gedanken an die Opfer
Das Erinnern und das Mahnen, gerade auch mit Blick auf den Antisemitismus in der heutigen Zeit, waren Teil der Gedenkfeier. Aber auch das stille Gedenken an die Opfer des Holocaust und die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Betzdorfer Juden. Stadtbürgermeister Geldsetzer legte einen Blumengesteck mit Schleife an der Säule mit der Gedenkrosette nieder, und Vetter einen gemeinsamen Kranz von Juso-Kreisverband Altenkirchen und Bündnis90/Grüne Betzdorf. Im Stillen wurde dann der Betzdorfer Juden gedacht. (tt)



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