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Nachricht vom 03.02.2022    

Altenkirchen erhält weitere 19 Stolpersteine – Insgesamt sollen es bis zu 80 werden

"Stolpersteine" erinnern an Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid gedrängt wurden. In Altenkirchen sollen insgesamt bis zu 80 in Erinnerung an vor allem ehemalige jüdische Mitbürger verlegt werden, 37 sind es schon.

In der Marktstraße setzte Gunter Demnig fünf Stolpersteine, die an Moritz Simon, Dr. Hermann Simon, Henriette Simon, Margot Hermann (geb. Simon) und Florentine Simon erinnern. (Foto: vh)

Altenkirchen. Der Mann ist gerade einmal 74 Jahre jung. In Arbeitsmontur gekleidet, mit großem braunen Hut auf dem Kopf und mit einem Schützer à la Fliesenleger, den er ums rechte Knie gebunden hat, ausstaffiert, macht er sich ans Werk. Ein paar wenige Steine des Oberflächenbelages vor der Altenkirchener Christuskirche sind bereits entfernt, so dass er im Handumdrehen die Austauschvarianten einsetzen kann, ehe sie mit einer Mischung aus Sand und Zement endgültig fixiert werden. Der Künstler Gunter Demnig, dem dieser Ablauf in Fleisch und Blut übergegangen ist, wiederholt an diesem Donnerstagnachmittag (3. Februar) die Prozedur 19-mal mit dem Ergebnis: Die Zahl der "Stolpersteine", die in Altenkirchen schon verlegt worden sind, erhöht sich auf 37. Insgesamt sollen es bis zu 80 werden. "Stolpersteine" erinnern an die Schicksale von Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid gedrängt wurden. Dazu zählen nicht nur Juden, sondern beispielsweise auch Roma und Sinti, religiös Verfolgte oder Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Die Gedenktafeln (pro Kopf eine) werden immer vor dem letzten, freiwillig gewählten Wohnsitz in den Boden eingelassen. Sie sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in 21 weiteren europäischen Ländern bekannt. Anfang des Jahres 2020 waren laut Wikipedia über 75.000 Blöcke in rund 1260 deutschen Städten und Gemeinden zusammengekommen. Sie gelten in ihrer Gesamtheit als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.


50 interessierte Zuschauer
Akkurat bestückt Demnig die kleine Vertiefung, für die die beiden Mitarbeiter des Bauhofes der Verbandsgemeinde, Steven Weinand und Tobias Utsch, verantwortlich zeichnen, im Handumdrehen mit vier Stolpersteinen, von denen der ein oder andere ein wenig per Meißel passend gemacht worden ist, ehe Demnig die Fugen verfüllt, das Ensemble ein wenig nachjustiert und abschließend die Oberflächen mit einem Lappen reinigt - begutachtet von rund 50 Interessierten, die sich um die Baustelle geschart haben. Horst Pitsch vom Förderverein Bismarckturm und Martin Autschbach, Schulpfarrer der evangelischen Kirchenkreise Altenkirchen und Wied, informieren zu den Menschen, denen die Erinnerungstäfelchen gewidmet sind. Unter anderem werden an diesem Nachmittag auch zwei dem Ehepaar Theodor und Babette Maas zugedacht, die in der Nähe des alten und nicht mehr existierenden Pfarrhauses ihre Standorte finden. Theodor, evangelischer Pfarrer in der Kreisstadt, starb am 3. März 1943, nachdem er am Abend zuvor von einem Lastwagen, an dessen Steuer wohl ein SA-Mann gesessen hatte, angefahren und schwer verletzt worden war.

90.000 in diesem Jahr
Wie viele Stolpersteine Demnig eigenhändig verlegt hat, weiß er schon gar nicht mehr. Worüber sich sein Team derzeit Gedanken macht, ist die Frage, in welchem Ort in diesem Jahr, in dem bereits alle Termine für Tauschaktionen ausgebucht sind, der 90.000. in Deutschland gesetzt wird. Demnig selbst tritt inzwischen nach dem Mammutjahr 2019, "in dem ich an 270 Tagen unterwegs war und teilweise bis zu drei Termine am Tag gemacht habe", ein wenig kürzer. Hin und wieder zwicke der Körper, dann helfe halt ein bisschen Gymnastik. Wenn noch in 2022 die nächste Runde der Installation in Altenkirchen über die Bühne gehen soll, wird er also selbst nicht mit von der Partie. Dann weiß Pitsch die Arbeit bei Bauhof-Bediensteten in guten Händen. Das Projekt in der Kreisstadt liegt federführend beim Förderverein Bismarckturm. "Der Aufruf für Spenden hat eine enorme Resonanz gehabt", blickt Pitsch zurück, das Geld für die bis zu 80 Stolpersteine sei bereits komplett zusammengekommen. "Nun ist hin und wieder noch ein wenig Recherche erforderlich", nennt er den nächsten Schritt. In erster Linie bilden bei den Nachforschungen zwei Bücher die Grundlagen: "Juden in Altenkirchen - Geschichte, Erinnerungen, Schicksale" (Margret Stolze, Heinz Krämer, Eckhard Hanke) und "Jüdische Familien aus den Gemeinden der Verbandsgemeinde Altenkirchen 1933 bis 1945" (Dr. Eberhard Blohm). Dazu komme, so Autschbach, noch ein "Miniarchiv" von Stolze, "das ich in meinem Büro habe". Die beiden Bücher seien wirkliche Fleißarbeiten mit einer "großen Vollständigkeit".



Kunstkonzept aus dem Jahr 1993
Demnig entwarf 1993 das Kunstkonzept für die Stolpersteine und hat dieses stetig weiterentwickelt. Nicht nur ist jeder Stein ein Kunstwerk, da er ästhetischen Ansprüchen genügen muss und per Hand von einem Bildhauer hergestellt wird, sondern auch alle Steine und involvierten Menschen bilden in ihrer Gesamtheit eine soziale Skulptur, wie er in Anlehnung an Joseph Beuys beschreibt. Einen Großteil der Steine verlegt Demnig selbst. Er möchte vor Ort sein, um einen würdigen Rahmen zu garantieren: Dazu gehört unter anderem, die Stelle für die Verlegung zu sehen und Kontakt mit Interessierten und ggf. Angehörigen zu haben. Die Kurzbiografien können theoretisch überall dort verlegt werden, wo die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 ihre Verbrechen begingen. Voraussetzung ist die Genehmigung der Kommune, da die Steine (bis auf wenige Ausnahmen) auf öffentlichem Grund ihr Zuhause finden.

120 Euro pro Stück
Die quadratischen Messingtafeln mit abgerundeten Ecken und Kanten sind mit von Hand mittels Hammer und Schlagbuchstaben eingeschlagenen Lettern beschriftet und werden von einem angegossenen Betonwürfel mit einer Kantenlänge von 96 × 96 und einer Höhe von 100 Millimetern getragen (Gewicht zwei Kilogramm). Die Kosten für einen Stolperstein in Höhe von 120 Euro, für die Paten oder andere Spender aufkommen, sind so berechnet, dass Verlegung und Projektablauf sichergestellt sind. Von dem Betrag werden sowohl das Material, die Organisation, die Beratung, die Nachrecherche, die pädagogische Begleitung von Schulklassen, die Herstellung der Steine per Hand, der Transport mit Post und Auto, die Anreise, das erforderliche Material für den Einbau, das eigentliche Verlegen als auch die Einpflege der Daten und Biografien der Opfer in Demnigs Datenbank finanziert.

In Berlin geboren
Am 27. Oktober 1947 in Berlin geboren, wuchs Demnig in Nauen und Berlin auf. 1967 legte er das Abitur ab und begann ein Studium der Kunstpädagogik an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. 1969/1970 folgte ein Jahr Industrial-Design-Studium an derselben Hochschule. Von 1971 an setzte er das Kunstpädagogik-Studium an der Kunsthochschule Kassel fort und legte 1974 dort das Erste Staatsexamen ab. Im selben Jahr begann Demnig erneut ein Kunststudium in Kassel bei Harry Kramer, dem ab 1977 für zwei Jahre die Tätigkeit in Planung, Bauleitung und -ausführung von Denkmalsanierungen folgte. Von 1980 bis 1985 war Demnig künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Kunst der Universität Kassel. 1985 eröffnete er ein eigenes Atelier in Köln und arbeitete bei mehreren Projekten mit. Nach weiteren Stationen in Köln verlegte Demnig 2017 sein Atelier nach Elbenrod in Hessen. (vh)



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