Wallmenroth: Gunter Demning verlegt Stolpersteine für zwei Opfer des Nazis
Zwei Stolpersteine erinnern nun an das Schicksal von Paul Jünger und Otto Schneider. Die beiden Wallmenrother sind Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Gunter Demning, der das Projekt initiiert hat, war erschienen, um selbst die Erinnerungssteine in den Boden einzulassen.
Wallmenroth. Gunter Demning wird in diesem Jahr seinen 90.000 Stolperstein verlegen. Zwei davon hat er nun in Wallmenroth verlegt. Den einen vor dem Haus Nummer 59 an der Hauptstraße in Wallmenroth. Dort wohnte Paul Jünger. Der zweite erinnert auf dem Dorfplatz vor dem Glockenhaus an Otto Schneider. Letzterer lebte im Wallmenrother Ortsteil Neu-Kalteich (heute Katzwinkel), und auf den für ihn gesetzten Stein ist auf der Messingplatte zu lesen: "Nach Grundausbildung bei der Wehrmacht Flucht in den Tod". Am 4. Februar 1945, wenige Monate vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands setzte Schneider seinem Leben ein Ende. Jünger, ebenfalls 1907 geboren, war am 25. Februar 1941 bei der "Aktion T4" in Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden.
"Beginn einer Erinnerungskultur"
"Es ist kein Ende der Geschichte", betonte Ortsbürgermeister Michael Wäschenbach. Es sei ein Gedenken und der "Beginn einer Erinnerungskultur" für künftige Generationen an die Gewalt- und Gräueltaten der Nationalsozialisten: "Als Mahnung und Auftrag". Im Beisein von Familienangehörigen von Schneider und Jünger sowie unter anderem Ratsmitgliedern und Schülern des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums, der Friedens-AG der Hermann-Gmeiner-Realschule plus Daaden und der Maximilian-Kolbe-Förderschule Scheuerfeld wurden die Stolpersteine verlegt. Wäschenbach dankte Demning, dass er gekommen war, um im Rahmen des Kunst- und Mahnprojektes Erinnerungssteine zu setzen, für Menschen, "die auf bittere Weise" ihre Leben verloren haben.
"Nationalsozialistisches Gedankengut trägt den Virus des Bösen in sich"
Am Haus 59 sprach Diakon Karl-Heinz Becher, der mit dem Augenzeugenbericht eines Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz das Gedenken, Erinnern und Mahnen einleitete. Der Augenzeugenbericht lasse einem schaudern: "Er lässt uns in die Abgründe der Menschlichkeit blicken." Der Bericht mache sprachlos, öffne aber auch die Augen: "Gott leidet mit dem Menschen." Der Diakon erinnerte an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch sowjetische Truppen. "Die Tore dieser Hölle öffneten sich und die Gefangenen fanden zurück ins Leben." Damals hieß es: "Nie wieder!", sagte Becher – und heute müsse es heißen: "Schon wieder! Immer noch!" Laut einer Studie sei jeder fünfte Deutsche empfänglich für rechtsextreme Parolen, sagte Becher: "Man leugnet den Holocaust und die Gräueltaten der Nazis und bestärkt sich darin in sozialen Netzwerken." Becher: "Das Wissensdefizit um die furchtbaren Ereignisse dunkelster deutscher Geschichte sind bei vielen Deutschen teils erschreckend." Bei dem geistlichen Impuls stellte er heraus: "Nationalistisches Gedankengut trägt den Virus des Bösen in sich, höchst ansteckend, pandemisch wirksam, todbringend und mutierend in immer neue Formen der Agitation und Aggression." Es gelte sich, dem zu widersetzen. Gewöhnlich räume man Stolpersteine aus dem Weg, aber "hier werden uns solche in den Weg gelegt" - mit Überlegung und Absicht. Die Stolpersteine "wollen uns daran hindern, zwei Männer aus unserem Ort, auf unterschiedliche Weise Opfer des Nazi-Terrors, zu vergessen." Für den Geistlichen steht fest: "Zwei Stolpersteine, die dafür Sorge tragen, dass wir nicht einfach über ihr Schicksal hinweggehen und uns mahnend erinnern, damit für alle Zukunft gilt: Nie wieder!"
Bis 1945 rund 600.000 Menschen Opfer der NS-Euthanasieprogramme
Ein geistlicher Impuls mit klaren Worten, auch von der ev. Pfarrerin und Schulpfarrerin Anja Karthäuser: "Die Erinnerung soll zu Frieden und Gerechtigkeit führen." Den Stolperstein, der an Jünger erinnert, setzte Demning ein. "Bis 1945 wurden sechs Millionen Jugend kaltblütig ermordet", sagte Gymnasiast Paul Geyer. Der verdeutlichte, was sechs Millionen Menschen entspräche: 589 mal Betzdorf, 4.808 mal Wallmenroth und 6.000 mal alle Schüler des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums. "Allein wenn man die Worte Endlösung der Judenfrage oder Sonderbehandlung hört, läuft es einem kalt den Rücken runter", sagte Geyer: "Hier wird Völkermord verharmlost und euphemisiert." Bis 1945 seien auch rund 600.000 Menschen Opfer der NS-Euthanasieprogramme. Das sei von vielen Menschen mitgetragen worden, die selbst Jahre danach noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien: "Und das ist ein weiteres Armutszeugnis für unser Land." Deshalb müsse "unsere Generation" dafür sensibilisiert werden, dass "wir die Verantwortung für diese Gräueltaten mittragen". Er bekomme immer wieder mit, dass die Ermordung dieser Menschen verharmlost und verleugnet wird. "Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen uns auch nicht scheuen dann ernst zu werden, wenn, denn kein Thema in der deutschen Geschichte könnte wichtiger sein."
Colin Haubrich: "Wir müssen immer wieder drüber stolpern"
Es gehe darum zu erinnern und zu mahnen, dass so etwas nie wieder passiert, betonte Colin Haubrich. Für den Schülersprecher des Gymnasiums wird dafür zu wenig getan. Und er habe das Gefühl, dass dieses Thema "in unserer Generation viel mehr als normal angesehen wird". Die unvorstellbare Zahl an Menschen, die systematisch und kaltblütig ermordet worden seien, sei nichts Alltägliches: "Es ist einmal passiert und darf nie wieder passieren." Er forderte unmissverständlich: "Wir müssen uns als Gesellschaft und insbesondere junge Generation den Holocaust-Leugnern und Rechtsextremisten entgegenstellen." Gerade wenn man die aktuelle Entwicklung sehe, wenn Menschen montags ohne Scham Seite an Seite mit Nazis marschieren, sich mit den Opfern des Holocaust gleichstellen und Judensterne mit der Aufschrift ,ungeimpft' tragen". Diese Verharmlosung, dieses menschenverachtende Verhalten sei traurig, erbärmlich und beschämend für "unsere Gesellschaft". Was ihm bei alldem hoffen lässt, dass sei es, dass diese Menschen nur eine radikale Minderheit seien. "Wir müssen sensibilisieren, gedenken und erinnern, wir dürfen nicht vergessen", sagte Haubrich, für den die Stolpersteine dabei wichtig sind: "Wir müssen immer wieder darüber stolpern."
45 Namen, 45 Schicksale
Nachdem der Stein für Jünger, der in Hadamar ermordet wurde, vor dem Haus gesetzt war, verlasen Schüler die Namen der Opfer aus dem Landkreis Altenkirchen. Es wurden dazu Kerzen in Kreuzform aufgestellt. 45 Namen, 45 Schicksale – und: "Das sind nur diejenigen, die bekannt sind", sagten die Schülerinnen. Wäschenbach: "Es ist schwer, eine so lange Liste auszuhalten." Die Friedens AG läutete die Friedensglocke. Diese war auch auf dem Dorfplatz zu hören, wo Demning den zweiten Stein setzte. Der Ortsbürgermeister betätigte die Glocken am Glockenhäuschen. Die Gedenkrede hielten hier die Schüler der Friedens-AG. Man gedenke Schneider, der nach Ansicht der Nazis als Verräter verstorben sei. "Innerlich zerrissen und seelisch gebrochen muss er den Weg in den Tod gewählt haben", sagten die Schüler: "Ausweg- und Aussichtlosigkeit prägten sein Handeln, womit er auch zeigte, dass er den Sinn des Lebens nicht mehr erkannte." Auch Jünger wurde hier gedacht: "Zweifelhafte Arztberichte und die 'Bürokratie des Todes' mit Sitz in Berlin, scheinbare Willkür, waren dafür verantwortlich, dass ihm Freiheit, Zukunft, Würde und Leben genommen wurden", sagten die Daadener Schüler.
"Menschen brauchen Gedenken – Gedenken braucht Menschen"
Gedenken sei ein Akt der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so die Friedens-AG. Frieden zu halten, das sei ein ständiger Prozess, und täglich müsse man sich um ein friedliches Miteinander bemühen, betrachteten die Schüler die Gegenwart, und ermutigten: "Lasst uns die Zukunft gestalten." Man sollte Bündnisse für einen respektvollen Umgang und eine friedvolle Konfliktbewältigung schaffen. Man dürfe sich nicht einschüchtern zu lassen und müsse mutig sein: "Zeigt den Hetzern und Faschisten Grenzen, bis hierher und nicht weiter." Als eine Kernbotschaft schälten sie heraus: "Menschen brauchen Gedenken, Gedenken braucht Menschen." Ein jüdisches Friedensgebet sprachen Provinzial Pater Egon Färber und Bruder Hubertus Büdenbender aus dem Kloster der Heiligen Familie in Bruche, und Pianist Dominik Stangier war auch hier am Klavier zu hören. Berthold Kostian sang das Lied "Allen Menschen Frieden".
Von der Tragödie des Zweiten Weltkrieges und den Gräueltaten der Nationalsozialisten wird auf einem Flyer zur Verlegung der Stolpersteine berichtet. Am Glockenhäuschen wurde das Einzelschicksal von Schneider näher betrachtet, der auf der Kalteich lebte. Er war Laborant auf der Friedrichshütte in Wehbach. Im November 1944 wurde der damals 37-Jährige zum Kriegsdienst bei der Wehrmacht einberufen. Nach einer sechswöchigen Ausbildung kehrte er nach Wallmenroth zurück, von wo aus es für ihn an die Front gehen sollte. "Schneider flüchtete in den Selbstmord", hieß es. Zwei Brüder von Schneider seien da bereits im Krieg gefallen. Es werde vermutet, dass der 37-Jährige sich aus Verzweiflung und der ausweglosen Lage an der Front selbst das Leben nahm – am 4. Februar 1945. Man fand Schneider in seinem Zimmer. Im Bett liegend. Tot. "Er hatte durch einen Kopfschuss seinem Leben ein Ende bereitet", heißt es in einem Zeitzeugenbericht, den Anita Bleeser auf Bitte des Ortsbürgermeister anlässlich des Volkstrauertages 2005 notiert. Der Bericht ist auf dem Flyer nachzulesen. Es wird berichtet, dass ein Militärarzt untersuchte, ob ein Fremdverschulden beim Tod Schneiders vorlag. Seine Tat sei vom damaligen Regime scharf verurteilt worden, heißt es weiter – und: "Ein Grab musste von seinen Angehörigen selbst ausgehoben werden und der Sarg mit einem Pferdefuhrwerk privat zum Friedhof gebracht werden."
Schneider habe kein richtiges Begräbnis erhalten und sei am Rande des Friedhofes verscharrt worden, sagte Wäschenbach. Die Ortsgemeinde achtet heute Schneiders Ruhestätte als Ehrengrab. Dem Verlegen der zwei Stolpersteine wohnten Schneiders Angehörige bei, ebenso die von Jünger. Von Jüngers Leben und traurigem Schicksal erzählte der Großneffe Hubert Behner aus Bruche. Mit 14 Jahren sei Jünger in das Kloster der "Barmherzigen Brüder" gekommen und habe eine Lehre absolviert. Jünger kam zu einem nicht bekannten Datum in die Anstalt Herborn. In einem auf dem Flyer abgedruckten Bericht der Gedenkstätte Hadamar heißt es: "Herborn war zu diesem Zeitpunkt eine sogenannte ,Zwischenanstalt' für die Tötungsanstalt Hadamar." Und weiter: "Von Januar bis August 1941 war Hadamar eine von sechs ,Euthanasie'-Tötungsanstalten der ,Aktion T4'." Behner berichtete, dass Jünger am 25. Februar 1941 mit 70 Insassen nach Hadamar verlegt worden sei und noch am gleichen Tag vergast worden sei. Der Mutter wurde schriftlich mitgeteilt, dass ihr Sohn am 12. März 1941 an Stauungsbronchitis verstorben sei, sagte Behner. "Das damals offiziell mitgeteilte Todesdatum und die Todesursache wurden falsch angegeben, um Angehörige und Behörden zu täuschen": Das ist dem Bericht der Gedenkstätte zu entnehmen. Aufgrund der "Seuchengefahr" sei weiter mitgeteilt worden, dass Jüngers Leichnam eingeäschert worden sei, gab Behner weiter. Die Urne sei auf dem Friedhof Wallmenroth bestattet worden. "Leider haben wir kein Foto von ihm", bedauerte Behner und äußerte eine Bitte: Wenn jemand ein Schulfoto aus den Jahren 1912 bis 1914 hat und zur Verfügung stellen könnte, würde sich die Familie freuen. Auch Jüngers Nichte Gaby Schlechtriemen aus Herdorf sprach am Glockenhäuschen: Es sei nichts von Paul Jünger erzählt worden, erinnerte sie sich und konstatierte ernüchtert: "Es ist, als wenn er überhaupt nicht gelebt hat." Er sei heimlich beerdigt worden, und er finde sich auch nicht in einem Sterberegister.
Nun wird mit einem Stolperstein an Paul Jünger gedacht und erinnert - und auch an Otto Schneider. Und um Erinnern, Gedenken und Mahnen ging es bei der Verlegung der Stolpersteine – und Wäschenbach appellierte vor allem an die Schüler: "Seit Beispiel für eine friedliche Welt." (tt)
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