Verkehrsstudie zeigt: Es ist fünf vor zwölf
Erstmals wurde eine Verkehrsstudie der Universität Siegen für den Wirtschaftsraum im Dreiländereck erstellt. Untersucht wurden der Landkreis Altenkirchen, der Lahn-Dill-Kreis und Südwestfalen. Die Zunahme des Güterverkehrs spielt dabei eine wichtige Rolle, denn das vorhandene zumeist schlechte Straßennetz wird den zunehmenden Güterverkehr nicht oder nur sehr schlecht aufnehmen können.
Betzdorf. Bis zum Jahr 2025 werden allen Verkehrsprognosen zufolge die Güterverkehrsleistungen bundesweit um rund 70 Prozent zunehmen. Ist die Region zwischen Hagen, Wetzlar und dem Kreis Altenkirchen darauf ausreichend vorbereitet? Wo muss die Verkehrsinfrastruktur wie verbessert werden, um auch in Zukunft sicherzustellen, dass die Produkte der vielen mittelständischen Industriebetriebe aus dieser Region zuverlässig zu den Kunden auf den Weltmärkten transportiert werden können? Wie können Rohstoffe und Vorprodukte aus dem Ausland schneller zu heimischen Unternehmen gelangen?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Gutachten von Prof. Dr. Jürgen Steinbrecher, Universität Siegen, der dieses im Auftrag der Industrie- und Handelskammern Siegen, Hagen, Lahn-Dill, Koblenz, Geschäftsstelle Altenkirchen, sowie der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Kreis Altenkirchen in Zusammenarbeit erstellt hat. Die wesentlichen Ergebnisse und die aus dem über 160 Seiten umfassenden Gutachten abgeleiteten Forderungen stellte der Verfasser der Studie gemeinsam mit Landrat Michael Lieber, dem Vizepräsidenten der IHK Koblenz, Thomas Bellersheim (Neitersen), dem IHK-Hauptgeschäftsführer Franz J. Mockenhaupt, Siegen und WFG-Geschäftsführer Berno Neuhoff vor.
Der schlechte Zustand von Bundes- und Landesstraßen im Kreis Altenkirchen ist bekannt und war bereits Gegenstand mehrerer IHK-Befragungen und Verkehrsforen von Kreis und IHK. Bau-Bewegungen gibt es nur im Schneckentempo und IHK Koblenz, Geschäftsstelle Altenkirchen, WFG und Landrat "bohren" seit Jahren gemeinsam "dicke Bretter", um Verbesserungen zu erzielen. Neu ist, dass erstmals eine wissenschaftliche Verkehrsstudie der Uni Siegen für das gesamte Dreiländereck die gravierenden Mängel und Handlungsbedarfe auf Straße und Schiene im Kreis attestiert und darlegt, dass beide Verkehrsträger selbst bei besserer Kombination nicht in der Lage sind, die prognostizierten Zuwächse im Güterverkehr aufzunehmen. Auch schreite der Substanzverfall der Straßen immens voran. Dringend müsse der Status-quo gesichert, beziehungsweise in dritte und vierte Spuren an Bundesstraßen und in den Ausbau der Landesstraßen investiert werden.
Die Kombination von Straße und Schiene bietet Chancen, ist aber nur für wenige Unternehmen im Kreis eine echte Alternative, um den Wirtschaftsstandort Kreis Altenkirchen insgesamt für die Zukunft zu sichern. Zu schlecht sind dafür die Noten der Unternehmen für die DB AG. Zudem fehlen Gleisanbindungen. Positiv hingegen wird das Engagement der Westerwaldbahn bewertet.
Straße bleibt beim Güterverkehr im Kreis AK Verkehrsträger Nr. 1
40 Prozent der befragten Unternehmen aus dem Kreis Altenkirchen bewerten die Autobahnanbindung als mangelhaft oder ungenügend und weisen den Bundes- und Landesstraßen eine besondere Bedeutung für die Sicherung des Wirtschaftsstandortes zu. Landrat Michael Lieber und IHK-Vizepräsident Thomas Bellersheim: „Für unsere Anbindung an die nationalen und internationalen Zentren ist der Substanzerhalt und der Ausbau von Bundes- und Landesstraßen heute und in Zukunft das A und O. Nur dadurch können Güter schnell in oder aus der Region transportiert werden. Die Güterverkehrsstudie belegt für den gesamten Wirtschaftsraum Dreiländereck die Risken und Herausforderungen.
Für den Kreis Altenkirchen ist es allerhöchste Zeit, endlich deutliche Zeichen zu setzen. Ein weiteres "Nichthandeln" oder zögerliches Handeln von Politik in Bund und Land im Kreis AK hat Auswirkungen über Ländergrenzen hinweg und führt zu Abwanderungen. Eine grenzüberschreitende Landes- und Verkehrsplanung, wie sie bis Anfang der 90er Jahre zwischen den Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und NRW aktiv betrieben wurde, ist nötiger denn je, um wichtige Bundesstraßen wie die B 62 und B 8/ B 414 bzw. die Siegstrecke schneller auszubauen. Auch der Arbeitskreis Dreiländereck von Kommunen und Kammern muss sich dringend mit dem Thema befassen, um den Druck der Region auf die drei Bundesländer zu erhöhen.
Landrat Michael Lieber: "Diese Studie spitzt die Frage zu, was noch passieren muss, damit in Sachen Straßenausbau von Bund und Land im Kreis endlich gehandelt wird. Das gleiche gilt für den Ausbau und die Beseitigung von Kriegsschäden auf der Siegstrecke".
"Die Siegstrecke, in manchen Bereichen noch immer eingleisig, weist erheblich Trassiermängel auf, auch die Tunnelquerschnitte sind für die modernen Container nicht ausgelegt", so Steinbrecher.
Die IHK Koblenz, Geschäftsstelle Altenkirchen, die IHKs im Dreiländereck sowie der Kreis fordern unisono eine grenzüberschreitende Verkehrsplanung und Investitionen, um die Erreichbarkeit und Zukunft des Wirtschaftsraumes Dreiländereck zu sichern. Lichtblicke sehen Lieber und Bellersheim in NRW, wo Schritt für Schritt bedarfsgerecht die A 45 und A 4 für 3,5 Milliarden Euro ausgebaut werden, obwohl ihnen in entsprechenden Bedarfsplänen keine Priorität zugesprochen wird. "So etwas muss es auch für den Kreis Altenkirchen beim Ausbau der B 62 und der B 8/ B 414 geben", fordern Bellersheim und Lieber. "Der Ausbau der B 62 als wichtige Handlungsoption ist im neuen Koalitionsvertrag der Landesregierung nicht einmal erwähnt“, kritisiert der Landrat.
Straße, Schiene und Wasserstraßen besser vernetzen – Hoher Exportanteil mit 90 % auf der Straße
Die Wirtschaft der Region zwischen Hagen, Wetzlar und dem Kreis Altenkirchen ist geprägt von einem hohen Anteil industrieller Unternehmen, die einen Großteil ihrer Produkte exportieren. Daher sind die Unternehmen auf funktionierende Verkehrsverbindungen angewiesen im Hinblick auf die hohen Exportquoten, insbesondere auf eine gute Verbindung zu den europäischen Seehäfen. Für diesen sogenannten "Seehafen-Hinterlandverkehr" wird bis in die Mitte 2020 ein Wachstum von über 160 Prozent erwartet. "Die Güterverkehrsströme fließen hauptsächlich in Richtung der ZARA-Häfen Zeebrügge, Antwerpen, Rotterdam und Amsterdam", so Steinbrecher. 110 Mio. Tonnen pro Jahr werden aus der untersuchten Region derzeit überwiegend zu diesen Häfen transportiert. Davon werden 90 Prozent auf der Straße abgewickelt. Mit Blick auf die aktuellen, aber zukünftig noch stärker absehbaren Mängel der Straßeninfrastruktur stellt Steinbrecher fest, dass bestimmte Straßenabschnitte bereits heute an der Kapazitätsgrenze betrieben werden und auf ihnen das künftige Güterverkehrsaufkommen nicht mehr abgewickelt werden kann. Hier verweist er beispielhaft auf die anstehenden Brückensanierungen bzw. Brückenneubauten im Verlauf der A 45 zwischen Wetzlar und Dortmund. Alle Brücken werden entlang dieser Hauptroute des Straßenverkehrs derzeit überprüft. Ein Hinweis auf die Dimension dieser Baumaßnahmen liefern die dafür bisher schon bereit gestellten rd. 3,5 Mrd. Euro.
Dieser Autobahn sowie der A 3 und deren Anbindung über die Bundes- Landesstraßen kommt im Kreis Altenkirchen eine besondere Bedeutung zu.
Ebenfalls deutlich eingeschränkt ist die Nutzungsmöglichkeit der Hauptschienenverkehrsstrecken der untersuchten Region, wozu auch die Siegstrecke gehört. Enge Kurvenradien, starke Steigungen, eingleisige Abschnitte und Tunnel, durch die moderne High-cube-container nicht mehr transportiert werden können, sind hier die Stichworte. Auch die Erreichbarkeit von Anlagen für den kombinierten Verkehr ist mangelhaft. Die Konsequenz des Gutachters daraus: "Bei langen Anfahrten über die Straße bis zu einem Umladeterminal sinkt die Chance, dass sich ein Umschlag auf die Schiene betriebswirtschaftlich lohnt".
A 45 ausbauen und in Siegstrecke sowie Rhein-Ruhr-Strecke investieren
Vor diesem Hintergrund plädiert Prof. Steinbrecher zeitgleich zu den Brückensanierungen für einen sechsspurigen Ausbau der A 45, macht aber gleichzeitig deutlich, dass damit über mindestens zwei Jahrzehnte gravierende Verkehrsprobleme für die Region zu erwarten sind. "Deshalb und angesichts der prognostizierten Verkehrszuwächse ist die Region gut beraten, nicht allein auf die Straße, sondern auch auf die Schiene zu setzen", empfahl Steinbrecher.
Dies aber sei nur möglich, so der Gutachter, wenn der Ausbau der Ruhr-Sieg-Strecke und der Siegstrecke bedarfsgerecht erfolge. Beide Strecken haben ihre überregionale Bedeutung im deutschen Schienennetz nicht zuletzt als Umleitungstrasse für weitlaufende Verkehre und als Alternative zur Rheinschiene.
Neben dem Ausbau der Bahnstrecken sind aber auch Investitionen in der Region erforderlich, die den Unternehmen die Nutzung der Bahn als Transportmittel ermöglichen. Dazu zählt beispielsweise das neue Verladeterminal in Kreuztal, das die Siegener Kreisbahn plant.
Eine weitere Empfehlung: Regionale Schienenverkehrsanbieter wie die Siegener Kreisbahn und die Westerwaldbahn sollten eng kooperieren. Derartige Ansätze, so Steinbrecher, entwickeln sich aktuell im Bereich Mittelhessen. Dort befindet sich ein Logistik-Cluster in Planung, das durchaus Möglichkeiten bietet, Strahlwirkung auf die Region und das Thema Güterverkehr zu entwickeln.
Nachdrückliche Empfehlung des Gutachters: "Intensivierung der Kooperation in der Region, denn die Gemeinsamkeiten gehen über die Grenzen von Kreisen und Bundesländern hinaus". Die Studie selbst bewertet Steinbrecher als einen solchen ersten Schritt in Richtung stärkere Kooperation.
Die Auftraggeber kommentierten übereinstimmend die Kernaussagen und Empfehlungen des Gutachters.
"Uns ist heute deutlicher als je zuvor, dass wir gerade mit unserer Lage im Dreiländereck intensiv kooperieren müssen, um mittel- und langfristig den Gütertransport in Richtung der Weltmärkte zu beschleunigen. Klar ist auch, dass wir künftig stärker im ‚kombinierten Verkehr’ denken müssen. Nicht nur die Sicherung, sondern der Ausbau der Ruhr-Sieg-Strecke bleibt dabei das A und O", so Franz J. Mockenhaupt (IHK Siegen). Für den Kreis Altenkirchen sieht der aus Wissen stammende Siegener IHK-Chef dringenden Handlungsbedarf bei Investitionen in Bundes- und Landesstraßen sowie auf der Siegstrecke.
Drei-Länder-Eck für die Politiker in den Landesparlamenten weit weg
Die gemeinsame Feststellung der Auftraggeber der Studie ist: „Diese erfolgreiche und industriestarke Region Dreiländereck ist für jede der drei Landesregierungen im wahrsten Sinne des Wortes ‚weit weg’. Umso dringender ist es, zukünftig erheblich stärker gemeinsam an der Verbesserung der Standortbedingungen für unsere Unternehmen zu arbeiten. Dazu gehören insbesondere die Fragen der Güterverkehrsinfrastruktur. "Wir sind fest entschlossen", so die IHK-Vertreter und Landrat Lieber, "eine in der Sache zwingend notwendige, aber bisher kaum praktizierte Landesgrenzen-überschreitende Verkehrsplanung bei unseren drei Landesregierungen einzufordern. Die aktuell angelaufene Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes ist dabei nur ein Anlass, wenn auch ein wichtiger mit langfristiger Bedeutung. (hw)
Die Kurzfassung der Studie ist unter www.wfg-altenkirchen.de zu lesen.
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