Stippvisite in Altenkirchen: Harry Abraham auf den Spuren seiner Vorfahren
Es sind Reisen in eine weit zurückliegende Vergangenheit, die mit zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte gehört und niemals vergessen werden darf. Immer dann, wenn Harry Abraham auch der Stadt Altenkirchen einen Besuch abstattet, sind die Reichskristallnacht und der Holocaust die gedanklichen Begleiter des 86-Jährigen aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio.
Altenkirchen. Was für viele Altenkirchener ein Klacks ist, nämlich Grabstätten auf dem Waldfriedhof in der Nähe des Sportzentrums zu besuchen, ist für Harry Abraham immer eine halbe Weltreise. Er muss sich in Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) in einen Flieger setzen, womöglich noch das eine oder andere Mal umsteigen, ehe er am Frankfurter Airport deutschen Boden betreten kann. Dann fehlen dem 86-Jährigen (geboren am 15. März 1938) weitere rund 120 Kilometer, um ein erstes Ziel, einen Teil des einstigen Lebensraums seiner Vorfahren, zu erreichen. Die Strapazen hat er seit 1976 schon sechsmal auf sich genommen, sechsmal hat er sich dort umgeschaut, wo die Wurzeln seiner jüdischen Familie zu finden sind. Und immer in Gedanken mit dabei sind die Schilderungen von der Reichskristallnacht (November 1938), in der er dem Hörensagen nach von seiner Mutter Ida vor herabfallenden Glassplittern eines Fensters gerettet wird, und an den sich anschließenden Holocaust. Vater Albrecht wird im Jahr 1900 in Altenkirchen geboren, Ida (geb. Rosenthal) 1910 in Meiderich. 1933 verlässt Albrecht das elterliche Haus in der Marktstraße 5, zieht nach Frickhofen, arbeitet als Viehhändler und heiratet 1936 wohl in Dornburg seine Lebensgefährtin. Nach einer Internierung im Konzentrationslager Buchenwald (1938) gelingt den Abrahams schon 1939 die Flucht aus Deutschland per Schiff von Genua unter anderem durch den Suez-Kanal nach Shanghai, wo sie in einer Art Ghetto leben und sich in der Textilindustrie ihren Lebensunterhalt verdienen. Achteinhalb Jahre dauert das Gastspiel in Fernost, ehe es möglich wird, in die Vereinigten Staaten von Amerika zu immigrieren. Seine Mutter habe das alles gemanagt, sagt Harry Abraham, über das Wie schweigt er sich aus. Die Eltern sterben schließlich 1976 und 2001 in Cleveland (Ohio).
Viele Stationen auf dem Programm
Für Harry Abrahams Abstecher zunächst nach Altenkirchen in Begleitung seiner Tochter Marcy Rosenthal und deren Mann Dr. Edward Rosenthal hat Martin Autschbach, seit 1996 Schulreferent der evangelischen Kirchenkreise Altenkirchen und Wied sowie profunder Kenner und Rechercheur jüdischen Lebens rund um die Kreisstadt, das Programm zusammengestellt. Stopps werden am Montag (10. Juni) unter anderem eingelegt an der Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge in der Frankfurter Straße, am ehemaligen Elternhaus in der Marktstraße, an Stolpersteinen vor der Christuskirche, am jüdischen Friedhof in der Kumpstraße (mit der Grabstätte seiner Großeltern) und am Modell der Synagoge in der Stadthalle, das Günter Fleischer erschuf. Weitere Stationen des Trips quer durch die Republik sind noch sein Geburtsort im hessischen Frickhofen, Stuttgart mit einer Ausstellung, die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Dachau und abschließend noch Berlin, von wo aus es wieder in die Staaten zurückgeht. „So wird jüdische Geschichte in Altenkirchen wieder erlebbar“, wertet Ralf Lindenpütz, gerade wiedergewählter Stadtbürgermeister von Altenkirchen, die Stippvisite des rüstigen Seniors. Als „Gastgeschenk“ überreicht er Harry Abraham eine Kopie dessen Original-Geburtsurkunde, die Sabine Rörig, Standesbeamtin der Verbandsgemeindeverwaltung Altenkirchen-Flammersfeld, über die Verwaltung der Gemeinde Dornburg „organisiert“ hat. Bei einem genaueren Studium des Dokuments, das in Sütterlin-Handschrift verfasst ist, stellt sich heraus, dass Harry Abraham um Punkt „12 Uhr mittags“ das Licht der Welt erblickt hat. Dass dieses Präsent die der beiden Begleiter (ein Buch über Altenkirchen und ein Getränk der Region) natürlich in den Schatten stellt, liegt beinahe auf der Hand. Per Facetime werden im Handumdrehen die Daheimgebliebenen auf den aktuellsten Stand gebracht.
Pflege der Familiengeschichte
Nun, die Beschwerlichkeiten der langen Anreise, beinahe deckungsgleich mit denen der Rückkehr in heimatliche Gefilde, nimmt Harry Abraham gerne an. „Mein Vater hat mir die Familiengeschichte immer und immer wieder erzählt. Für mich ist wichtig, die Familiengeschichte lebendig zu halten“, ist für Antrieb genug. Im Rückblick auf die Nazi-Zeit in Deutschland sieht Harry Abraham die Reichskristallnacht als wichtiger als den Holocaust an, weil „schon da niemand etwas dagegen gemacht hat“. Sein Appell ist deutlich: „Vergesst nicht die Vergangenheit!“ Ob er schon einmal mit dem Gedanken gespielt habe, den USA den Rücken zu kehren, um nach Israel überzusiedeln, wird er gefragt. „Ja“, lautet die prompte Antwort, „ich habe da noch Verwandte.“ Aber der finale Schritt fehlt bislang. Immerhin 26 Reisen, so seine Aussage, hätten ihn schon dorthin geführt. Inzwischen habe er weitestgehend vor dem Hintergrund der Historie Frieden mit Deutschland geschlossen. Dennoch: Derzeit könne er im intellektuellen Umfeld teils nicht verstehen, „dass Leute das tun, was sie tun“. Grundsätzlich gelte es, Respekt vor anderen Leuten zu zeigen. Die Geschichte aber belehre eines Besseren: „In jeder Generation passiert irgendetwas mit jüdischen Menschen, die sich dann bedroht fühlen.“
Sorge über Situation zu Haus
Marcy Rosenthal ihrerseits spricht von Angst, wenn sie auf die Situation in ihrem Heimatland blickt. „Immer mehr Polizei“ vor jüdischen Einrichtungen bedeute nichts Gutes. (Niedergeschlagene) Proteste an den Universitäten sieht sie als bedenklich an. Für ihren Mann Edward Rosenthal ist in dieser Blickrichtung nicht der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump das Übel, sondern die Terrororganisation Hamas und das seit dem 7. Oktober des Vorjahres, dem Tag des Überfalls auf Israel. „Was passiert als nächstes?“, fragt Marcy Rosenthal rhetorisch in die Runde und weiß: „Wir müssen aufpassen, wen wir wählen.“ Sie fordert mehr Toleranz ein, „die meisten Menschen wollen Frieden auf der Welt und so leben, wie sie es wollen“. Mit Blick auf ihren Aufenthalt ist Marcy Rosenthal ganz angetan von der Westerwälder Landschaft. „Sehr schön, sehr sauber“, zieht sie ein erstes Fazit und ist beeindruckt von den hügeligen Panoramen mit den Punkten, „den Dörfern“. Einfach nur idyllisch beschreibt sie das, was sie bislang gesehen hat, und hofft vielleicht insgeheim, dass auf alles im Leben dieses Adjektiv zutreffen sollte ... (vh)
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