Werbung

Nachricht vom 16.09.2024    

Zusammenbruch der Kartonwand - Spiegel-Bestseller-Autor Fatih Çevikkollu las in Waldbreitbach

Von Helmi Tischler-Venter

Fatih Çevikkollu ist als Kabarettist, Theater-, Film- und Fernsehschauspieler in der Rolle des Murat Günaydin in "Alles Atze" bekannt. Am Sonntag, 15. September stellte er sein Buch "Kartonwand" im Hotel zur Post in Waldbreitbach vor. Maria Bastian-Erll, langjährige Leiterin der Westerwälder Literaturtage, führte mit Interview-Fragen durch den Abend, sodass der Autor viel aus seinem Leben erzählte.

Maria Bastian-Erll, langjährige Leiterin der Westerwälder Literaturtage, führte mit Interview-Fragen durch den Abend, sodass Fatih Çevikkollu viel aus seinem Leben erzählte. Fotos: Wolfgang Tischler

Waldbreitbach. Çevikkollu, Sohn türkischer Eltern, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen, las den Anfang des Buchs vor, der die Nachricht vermittelt, dass die Mutter gestorben sei. Das war der Moment, der für den Künstler eine Zäsur darstellte. Zwar war der Tod nicht unerwartet, sie litt an einer Psychose und war im Alter nicht mehr gesellschaftsfähig. Der Sohn blieb in Deutschland und spielte Kabarett, statt zur Beerdigung in die Türkei zu fliegen, aber die Frage "Was machte Mutter krank?" ließ ihn nicht mehr los. Er überlegte, warum manche Arbeitsmigranten krank wurden und andere nicht. Zwar hatte er in seinem Vater einen Zeitzeugen, aber der schwieg.

Bei seinen Recherchen und Erinnerungen fand Çevikkollu die Kartonwand als Symbol des Vorübergehenden. Die türkischen "Gastarbeiter" sollten nur zwei Jahre in Deutschland bleiben und dann ausgetauscht werden. Die türkischen Arbeitsmigranten wollten auch nur wenige Jahre lang gut Geld verdienen und dann in der Heimat schön leben. Daher wurden schöne und wertvolle Dinge in Kartons aufbewahrt für das zukünftige Leben in der Heimat, wo alles besser würde.

Die Rotation war von der Wirtschaft nicht gewünscht, aber statt mit der Integration zu beginnen, wurde die Zugehörigkeit der Arbeitsmigranten weiterhin nicht zugelassen. 1973 vervielfachte sich durch die Familienzusammenführung die Zahl der Migranten. 1982, als man auf die Gastarbeiter verzichten konnte, erließ Helmut Kohl ein Rückkehrförderungsgesetz, um türkische Migranten zur Rückkehr zu bewegen.

Fatih Çevikkollu meinte zu dem Begriff "Gastarbeiter": "Deutschland sei das einzige Land, das seine Gäste arbeiten lässt." Die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die nach Jahren dämmernde Erkenntnis, dass das Provisorium nie enden wird, verursachten bei den Migranten ein Trauma. Ebenso das Phänomen der "Kofferkinder": Die Kinder der ersten Generation wurden wie Koffer hin und her geschickt, Psychologen sehen darin einen frühen Bindungsabriss, der sich noch nach Jahrzehnten auswirkt, wenn die Eltern pflegebedürftig werden. Auf die Mütter übte dieses länderübergreifende Versenden der Kinder Belastungsdruck aus.



Çevikkollus Mutter war zudem gegen den Willen ihres Vaters nach Deutschland gefolgt. Dadurch verlor sie ihre Arbeit als Grundschullehrerin, ihren Status und ihr schützendes Umfeld. Die Bedingungen in Deutschland waren nicht gut für sie. Nach Jahren merkte sie, dass der Absprung nicht gelingt, 1988 scheiterte der Versuch, heimzukehren, und als in den 90er Jahren Fatih und sein älterer Bruder auszogen, wurde sie auffällig.

Zurzeit werden weltweit Fachkräfte gesucht, gleichzeitig wird illegale Immigration bekämpft. Dazu meinte Çevikkollu, man müsse die Relationen sehen und sich deswegen ständig informieren. Migration habe mit den Problemen des Landes nichts zu tun. Infrastruktur, Digitalisierung, Schulbildung, Krankenpflege und vieles mehr läge im Argen und sei ohne Arbeitsmigranten noch brisanter. Politisch werde bewusst das Asylantenproblem in den Vordergrund gestellt, mit der einfachen Lösung, der Ausländer sei schuld, statt dringende Probleme anzupacken. "Wir müssten einen attraktiven Standort darstellen, damit Menschen mit internationaler Biografie gern hierherkommen." Die Lebensleistung aller Arbeitsmigranten müssen wir anerkennen, das würde auch dem cleveren Erdogan die Zustimmungs-Basis entziehen, war er sich sicher.

Der Künstler äußerte sich zuversichtlich, dass die Gesellschaft das könne, wie sie bei der Einwanderung von Russlanddeutschen und Ukrainern gezeigt habe. "Das sollte uns keine Angst machen. Unsere Gesellschaft ist richtig gut, weil sie multipel und pluralistisch-demokratisch ist. Wir kriegen das hin!"

Zum Abschluss konnten die Zuhörer Fragen stellen und sich an der Diskussion beteiligen, was ebenso gern in Anspruch genommen wurde wie das Signieren der "Kartonwand"-Bücher. htv



Lesen Sie gerne und oft unsere Artikel? Dann helfen Sie uns und unterstützen Sie unsere journalistische Arbeit im Kreis Altenkirchen mit einer einmaligen Spende über PayPal oder einem monatlichen Unterstützer-Abo über unseren Partner Steady. Nur durch Ihre Mithilfe können wir weiterhin eine ausgiebige Berichterstattung garantieren. Vielen Dank! Mehr Infos.



Feedback: Hinweise an die Redaktion

Weitere Bilder (für eine größere Ansicht klicken Sie bitte auf eines der Bilder):
   

Anmeldung zum AK-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Kreis Altenkirchen.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus Kultur


20. Monkey Jump Kneipenfestival Hachenburg: Party-Hochburg am 29. März

ANZEIGE | Am Samstag, den 29. März, verwandelt sich Hachenburg in eine Festival-Hochburg, wenn das 20. ...

Bergbaujahr 2025 in Willroth: Feierliche Eröffnung am 29. März auf der Grube Georg

ANZEIGE | Das Jahr 2025 steht in der Verbandsgemeinde Altenkirchen-Flammersfeld ganz im Zeichen des Bergbaus. ...

Celtic Folk Music in Wissen: Cara brachte das irische Lebensgefühl ins Kulturwerk

Cara ist eine international bekannte und mehrfach ausgezeichnete Formation. Die Musiker vermitteln durch ...

Buchtipp: "Das Rot der Stiefmütterchen" von Susanne Arnold

In das anheimelnde Cottage auf dem Titel des neuen Kent-Krimis möchte man direkt einziehen und die Gastfreundschaft ...

Motto dieses Sommers: "Forever young?"

In Anlehnung an das Motto des rheinland-pfälzischen Kultursommers folgt auch der Westerwälder Literatursommer ...

Mathias Richling begeistert Hachenburg mit scharfzüngigem Kabarett

Die Hachenburger Kulturzeit landete erneut einen Volltreffer und holte mit Mathias Richling einen der ...

Weitere Artikel


First Responder in Gebhardshain gesucht: DRK lädt zum Informationsabend ein

Der DRK-Ortsverein Gebhardshain ist in Zusammenarbeit mit der Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain ...

Verkehrsunfall auf der B 62 in Roth - Fahrerin schwer verletzt

Wie die Polizei am Montagmittag, 16. September, mitteilt, ist es am Samstag, 14. September, auf der Bundesstraße ...

Elite des Taekwondo aus Rheinland-Pfalz tritt in Vergleichskämpfen an

Im Rahmen eines zweitägigen Lehrgangs fanden kürzlich Vergleichskämpfe unter den 20 besten Taekwondo-Kämpfern ...

Aktiv-Messe "Erlebnis Natur" in Wissen: Seit Jahren der Termin für Naturfreunde

Die Naturregion Sieg lud am Sonntag (15. September) wieder in das Kulturwerk Wissen ein. Bereits vor ...

Schulgemeinschaft der IGS Hamm/Sieg triumphiert beim Französisch-Wettbewerb

Die Schulgemeinschaft der Integrierten Gesamtschule (IGS) Hamm/Sieg darf sich über einen bemerkenswerten ...

Schwerer Verkehrsunfall in Friesenhagen: Pkw prallt gegen Baum und landet auf dem Dach

Ein 20-jähriger Autofahrer wurde bei einem Verkehrsunfall in Friesenhagen am heutigen Sonntagmorgen (15. ...

Werbung