Altenkirchen: Podiumsdiskussion analysiert Situation rund um Gesundheitsversorgung
Das Problem ist so vielschichtig, dass es zur Lösung einer Menge guter Ansätze und gleichfalls enorm viel Geldes bedarf. Um die (Verbesserung der) Gesundheitsversorgung in der Region drehte sich eine Diskussionsrunde mit Direkt-Kandidaten (oder deren Vertretern) aus dem Wahlkreis 196 Neuwied (Altenkirchen), die über den Urnengang am 23. Februar in den Bundestag einziehen möchten.
Altenkirchen. Sitzfleisch war an diesem Montagabend (3. Februar) wahrlich vonnöten. Nach einer mehr als dreieinhalbstündigen Diskussion, als Frage-und-Antwort-Spiel zum Thema „Was nun? Was tun für die Gesundheitsversorgung?“ inszeniert, hatten Direkt-Kandidaten (oder deren Vertreter) aus dem Wahlkreis 196 Neuwied (Altenkirchen) für die Bundestagswahl am 23. Februar ihre Ansichten zur aktuellen Situation in Sachen Gesundheitsversorgung und zu möglichen Wegen aus den zahlreichen Problemen dargelegt. Eines vorweg: Die Zusammenkunft, von der Bürgerinitiative „Gute Gesundheitsversorgung im Raiffeisenland“ im Altenkirchener Hotel Glockenspitze initiiert, glänzte vor knapp 80 Zuhörern mit einer wohltuend guten Gesprächskultur – im Gegensatz zu vielen anderen Zusammentreffen in diesen Tagen. Als Konsens arbeitete Ralf Käppele, neben Dr. Isabella Jung-Schwandt (beide Mitglieder der Bürgerinitiative) einer der beiden Fragesteller, schließlich das Vorhandensein einer Grund- und Notfallversorgung in der Fläche heraus. Jan Hellinghausen (SPD) beispielsweise schrieb einer Notanlaufstelle in einem kleineren Krankenhaus die Abteilungen Chirurgie und Innere Medizin als zwingend erforderlich zu, „alle weiteren sind in größeren Häusern“. Als „richtigen Weg“ kennzeichnete Michael Wäschenbach (CDU/für die erkrankte Ellen Demuth) die begonnene Krankenhaus-Reform, verlangte unmissverständlich die „Entökonomisierung“. Für Thorben Thieme (Bündnisgrüne) führte kein Weg an einer „Anlaufstelle rund um die Uhr“ vorbei, ein Level-1-Hospital müsse vorhanden sein. Dr. Klaus Kohlhas (FDP/für Sandra Weeser) nannte die „Akutversorgung wichtig“ und sprach sich für bessere Rettungsdienstzeiten in Altenkirchen aus. Erfreulich sei, dass ein zweiter Rettungstransportwagen für die Nacht in der Kreisstadt stationiert werde. „Alles über 30 Minuten ist schlecht“, spannte Julia Eudenbach (Die Linke) den Bogen zu Schlaganfallpatienten, die in einer halben Stunde unbedingt eine „Stroke Unit“ (Spezialstation) erreichen müssten. Bei allen zeitlichen Überlegungen sollten auch Schwangere und Gebärende „mit in den Fokus“ genommen werden.
Die Rolle eines MVZ
Ob ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), wie anstelle des Krankenhauses in Altenkirchen inzwischen eingerichtet, eine voll funktionsfähige Klinik ersetzen könne, verneinte Hellinghausen entschieden: „Die ambulante Struktur ist dafür nicht ausgelegt.“ Thieme betrachtete ein MVZ als „sinnvollen Baustein“ zu einem Krankenhaus der Grundversorgung in der Nähe. Eine Kurzliegerstation mit 30 bis 40 Betten nach dem Stadamed-Konzept hätte sich Kohlhas für Altenkirchen gewünscht, um Patienten vor Ort adäquat versorgen zu können, „die Idee kommt vielleicht noch durch“. Eudenbach betrachtete ein MVZ nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung eines Krankenhauses. Auch für Wäschenbach stellte ein MVZ kein Äquivalent für ein Hospital dar. Einig war sich die Runde, dass das Fallpauschalenprinzip (DRG-Entgeltsystem) nicht mehr zeitgemäß ist. Kohlhas nannte es „überholt“ und sprach von einer „blutigen Entlassung“, weil Patienten immer früher nach Hause geschickt würden. Eudenbach forderte ein „kostendeckendes Arbeiten ohne Rendite“, Wäschenbach, dass die „Gesundheitsversorgung sich am Patienten orientieren muss“, während Hellinghausen darlegte, dass sich „Notfallversorgung und Kostendeckung gegenseitig ausschließen“.
Weniger Krankenkassen?
Vor dem Hintergrund von rund 100 am Markt agierender gesetzlicher Krankenkassen regte Eudenbach „eine Krankenkasse für alle“ an. Der Beitragssatz würde auf 13 Prozent sinken und damit um vier Prozentpunkte unter dem jetzigen liegen. Zudem dürfte die Versorgung nicht aufgrund von Profit und Rendite geschehen. Krankenhäuser müssten, so Hellinghausen, rekommunalisiert werden. Wäschenbach mahnte eine gleiche Gesundheitsvorsorge in der Stadt und auf dem Land an, so dass Käppele mit Blick auf die prekäre Versorgung auf dem Land einen gestaffelten Beitragstarif nach Regionalklassen wie bei der Autoversicherung ins Spiel brachte. Wäschenbach sprach sich nicht für eine Verringerung der Krankenkassen aus, sondern propagierte den „gesunden Wettbewerb“. Das SPD-Konzept einer Bürgerversicherung präferierte Hellinghausen und zwar nicht mit unterschiedlichen Tarifstrukturen. Thieme nannte „sieben bis acht Milliarden Euro, die für Bürokratie“ angesetzt werden müssten. Laut Kohlhas „haben wir zu viele Krankenhaus-Betten in Deutschland. Eine Flatrate, wir wie sie haben, hat kein anders Land“. Zudem möchte Hellinghausen, dass „private Kliniken am Gesundheitssystem beteiligt werden müssen“.
Hohe Zahl an Arztbesuchen
Kohlhas brachte mehr Bürgerverantwortung ins Spiel. „In Deutschland gehen die Menschen im Jahr zehnmal zum Arzt, in Frankreich fünfmal und in Skandinavien zwei- bis dreimal“, mit der Masse werde die Qualität nicht besser, „wir müssen mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen“, wünschte er sich, Präventionsmedizin werde in Deutschland nicht gelebt. Wäschenbach berichtete, dass „der Medizinische Dienst“ sein Lieblingsfeind sei, der eine „Misstrauenskultur“ erzeuge und der mit Funktionären der Krankenkassen besetzt sei. In Sachen Bedarfsermittlung, die auch per Simulation erfolgt, vertrat Thieme die Ansicht, „sich auch die reale Lage vor Ort anzusehen“. Mit solch einer Erhebung dürfe nicht gespielt werden. „Patientenströme hören nicht an Landes- oder Kreisgrenzen auf“, analysierte Kohlhas, die Krankenhausplanung gehöre in ein Bundesinstitut. Es sei indes schwierig, viele Träger in ein Boot zu bringen. Die Berechnung mit alten Daten sei nicht zielführend, merkte Eudenbach an. „Die Bedarfsermittelung darf nicht Gesundheitsminister Hoch und auch nicht der Kassenärztlichen Vereinigung überlassen werden“, appellierte Wäschenbach, der die Hoheit der Konzeption in Händen eines regionalen Gremiums angesiedelt sehen möchte.
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Fachkräftemangel als Problem
Einig war sich das Podium, dass dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden muss auch vor dem Hintergrund, dass aufgrund der Schließung des Hospitals in Altenkirchen rund 120 Mitarbeitende dem Träger DRK den Rücken gekehrt, die Region also verlassen oder gar dem System adieu gesagt hätten. Thieme sah in besseren Gehältern und Arbeitszeitmodellen, mehr Kita-Plätzen und stabileren Dienstplänen Ansätze, die Misere zu beheben. „Eine grottenschlechte Kommunikation“ unterstellte Kohlhas dem DRK sowohl während der ersten als auch zweiten Insolvenz. Laut Wäschenbach habe das DRK im Herbst 2023 das größte Kapital verloren, nämlich „das Vertrauen“. Darüber hinaus konstatierte er die Leiharbeit als „großes Problem, da sie nicht zu 100 Prozent refinanziert wird“. Eudenbach wusste von einem „rauher gewordenen Umgangston“, Hellinghausen brachte den Gedanken ins Spiel, „ein verpflichtendes soziales Jahr für junge Menschen“ einzuführen. Kohlhas beleuchtete die Zahl der Studienplätze für Medizin, die 1989/90 10.800 in West- und 6000 in Ostdeutschland betragen habe. „Aktuell gibt es 10.800 Plätze“, verglich er und schrieb für Rheinland-Pfalz ein schlechtes Zeugnis, denn im kleinen Saarland würden dreimal mehr Ärzte ausgebildet. Für Wäschenbach stellte der Numerus Clausus ein großes Hindernis dar, zudem weigere sich die Landesregierung seit Jahren konsequent, der Forderung der CDU nachzukommen, die Zahl der Studienplätze auf 650 zu erhöhen. Thieme berichtete aus Bonn, wo lediglich 30 Prozent der Studienanwärter NC-geprüft würden. Eine Entzerrung des Studiengangs könne nur über eine Erhöhung der Plätze erfolgen.
Müschenbach 2.0 = Ausbau in Altenkirchen
Und schließlich, wie hätte es anders sein können, kam die Sprache doch auf die Krankenhauslandschaft in der Region mit Blick auf den geplanten Neubau des Westerwaldklinikums in Müschenbach. Thieme betonte sein „Ja“ zu dem geplanten Projekt, möchte dafür jedoch keine Flächenversiegelung auf der „grünen Wiese“ in Kauf nehmen, sondern das Haus in Altenkirchen ausbauen. „Die Koalition in Mainz hat Müschenbach immer unterstützt“, deutete Wäschenbach in Richtung Landesparlament. Er spreche sich immer für Müschenbach 2.0 aus, nämlich die Erweiterung des Krankenhauses in Altenkirchen. Das sei sinnvoller als auf der grünen Fläche zu bauen. Zudem sei die Planung für Müschenbach viel zu klein und die Finanzierung nicht gesichert, zitierte er seinen inzwischen verstorbenen MdB-Kollegen Erwin Rüddel. Die Versorgung müsse in dem definierten Bereich erfüllt werden, deshalb sei es nicht eine Frage des Standorts in Altenkirchen oder in Hachenburg, gab Hellinghausen zu Protokoll, „wenn wir über einen großen Neubau sprechen. Die Standortfrage wird noch einmal kommen.“ Eudenbach sah die Landwirtschaft als Verlierer. Wenn in Müschenbach gebaut werde, gingen ihr Flächen verloren. Und für die notwendigen Ausgleichsflächen müsse die Landwirtschaft ebenfalls herhalten. „Wir machen keine Natur neu, die wächst nicht nach“, lautete ihr einfacher Kommentar.
Redezeit vorgegeben
Corina Simmerkuß, die Vorsitzende des Vereins „Miteinander – Verein für eine gute Gesundheitsversorgung im Raiffeisenland“, der die Bürgerinitiative „Gute Gesundheitsversorgung im Raiffeisenland“ trägt, eröffnete die Diskussion, während Dr. Gunnar Lindner die Veranstaltung moderierte und als „Ermahner“ fungierte, wenn die vorgegebene Redezeit ins Uferlose abzudriften drohte. Direktkandidat Carsten Zeuch (Freie Wähler) nahm trotz Zusage nicht teil. (vh)
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