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Nachricht vom 01.05.2013    

Zum Tag der Arbeit Missstände beim Namen genannt

Wer Prof. Dr. Franz Segbers einlädt, der muss sich auf klare Worte gefasst machen. Zur kreisweiten DGB-Kundgebung ins Kulturwerk Wissen hatte der DGB-Kreisverband den renommierten Theologen und Sozialwissenschaftler gewinnen können, ein Glücksgriff. Es waren zwar schon deutlich mehr Personen als im letzten Jahr zum Kundgebung gekommen, aber die Rede hätte deutlich mehr Zuhörer vertragen.

Bernd Becker (links) hatte vor rund einem Jahr Prof. Dr. Franz Segbers für die Mai-Kundgebung gewinnen können. Fotos: Helga Wienand-Schmidt

Wissen. Das diesjährige Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) "Gute Arbeit. Sichere Rente. Soziales Europa." hatte Prof. Dr. Franz Segbers scheinbar sehr ernst genommen. Denn seine Rede im Kulturwerk Wissen brachte die Dinge so dezidiert auf den Punkt, die nach Ansicht vieler Menschen, nicht nur der Gewerkschaftler, innerhalb der Gesellschaft und des Landes völlig aus dem Ruder gelaufen sind.
Doch bevor Segbers das Mikrofon erhielt, hatte der stellvertretende DGB-Kreisvorsitzende Bernd Becker die Gäste begrüßt, darunter Landrat Michael Lieber, den 1. Beigeordneten der Stadt, Claus Behner, MdB Sabine Bätzing-Lichtenthäler und MdL Thorsten Wehner. Becker hatte vor rund einem Jahr die Kontakte zu Segbers geknüpft und die Zusage erhalten. "Das wird ein schwerer Tag für die Politiker", meinte Becker humorvoll. Im Grußwort war er auf unterschiedliche Themen eingegangen, darunter das Thema Schuldenbremse. So, wie dies derzeit exekutiert werde, führe die Schuldenbremse in die Irre. Die Daseinvorsorge für die Menschen bleibe dabei auf der Strecke.
Landrat Michael Lieber ging auf die Zukunftsfähigkeit der Region ein. "Gewerkschaft und Kommunen kämpfen gemeinsam für sichere Arbeitsplätze vor Ort", so Lieber und erinnerte an das Desaster Faurecia. "Hier spricht die Region mit einer Stimme", sagte Lieber und wies auch auf die Kampagne "Anschluss Zukunft" hin. Eine leistungsfähige Region sichere Arbeitsplätze, dazu gehöre der DSL-Ausbau ebenso wie die Verkehrswege.
Die Grüße der Stadt und Verbandsgemeinde Wissen sprach der 1. Beigeordnete, Claus Behner, in Vertretung des Bürgermeisters aus. Sein Dank galt den ehrenamtlich tätigen Gewerkschaftlern, die die Kundgebung immer wieder organisierten und möglich machten.
Nun sind die Zeiten, wo in Wissen 300 Menschen zu den 1.-Mai-Kundgebungen kamen längst vorbei. Aber diesmal waren es schon deutlich mehr als im letzten Jahr. Vielleicht lag es am Referenten, immerhin war Segbers Dozent für Theologie und Sozialethik an der evangelischen Sozialakademie Friedewald von 1998 bis 2002. Und er unter anderem war zwei Jahre lang Sprecher der Landesarmutskonferenz. An der Uni Marburg lehrt Prof. Dr. Franz Segbers Sozialethik.
Seinen Vortrag zum 1. Mai veröffentlichen wir in voller Länge, die Genehmigung liegt vor. Musik gehörte ins Programm, temperamentvoll eröffnete die Bergkapelle "Vereinigung" Katzwinkel und der Leitung von Michael Velten die Kundgebung. Jörg Brück sorgte mit der Gitarre und Arbeiterliedern für die passende Stimmung. Das Schlusswort gehörte dem 1. Bevollmächtigten der IG Metall Betzdorf, Claif Schminke. Er erinnerte an die parteiübergreifende Solidarität als es um die Faurecia-Arbeitsplätze ging. Nur die FDP habe sich da nicht beteiligt. Zu den anstehenden Lohnverhandlungen im Bereich Metall/Elektroindustrie sei das Angebot von 1,9 Prozent nicht akzeptabel. "Wir lassen uns nicht mit Almosen abspeisen", so Schminke und kündigte Warnstreiks in der Region an.

Rede, Prof. Dr. Franz Segbers zum 1. Mai in Wissen
"Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
morgen jährt sich zum achtzigsten Mal die Zerschlagung der freien deutschen Gewerkschaftsbewegung durch die Nationalsozialisten am 2. Mai 1933. Den 1. Mai 1933 hatten die Nationalsozialisten zuvor als „Feiertag der nationalen Arbeit inszeniert, doch am 2. Mai besetzten und verwüsteten SA-Kommandos im ganzen Land Gewerkschaftshäuser und Büros. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wurden von den Nationalsozialisten verhaftet, verschleppt, gefoltert und ermordet.
Viele, die überlebten, haben sich aber auch nach 1945 daran gemacht ein besseres, gerechteres, ein demokratisches Deutschland aufzubauen.

Am heutigen Tag beginnt in Hamburg der deutsche Evangelische Kirchentag, zu dem ich nach meiner Rede fahren werde. Er hat das Motto: "So viel Du brauchst'_ Dieses Motto des Kirchentages und die Losung des heutigen 1. Mai der Gewerkschaften "Gute Arbeit. Sichere Rente, Soziales Europa" lassen sich gut verbinden: So viel du brauchst — gute Arbeit, sichere Rente, soziales Europa.

Die Regierenden haben das Ende der Wirtschaftskrise ausgerufen. Sie jubeln: wir haben unter drei Millionen Arbeitslose. Wir freuen uns über jeden, der wieder Arbeit findet. Doch die gute Nachricht sinkender Arbeitslosigkeit hat einen bitteren Beigeschmack. Die Arbeit, die wächst ist schlechte Arbeit — Leiharbeit, befristete Arbeit, Minijobs. Arbeit, von der man nicht leben kann.
Wir wissen aber auch: Arbeitslosenzahlen sinken nicht, wenn man die Statistiken türkt, über eine Millionen Arbeitslose werden nicht gezählt, weil sie bei privaten Vermittlungsfirmen sind, Ein-Euro-Jobs machen oder in Weiterbildungsmaßnahmen stecken. Die Statistik wurde geschönt und jetzt freut man sich über ihre selbst geschönten Zahlen. So sind es nicht knapp drei Millionen Arbeitslose — in unserem Land fehlt für viereinhalb Millionen Menschen Arbeit.
Es stimmt:
Die Arbeitslosenzahlen sind gesunken — doch über 2 Millionen Menschen sind langzeitarbeitslos. Da hat auch die Agenda 2010 und Hartz IV nicht geholfen. Deshalb ist es falsch von Vollbeschäftigung zu reden. Es gibt auch nach allen vorliegenden Untersuchungen keinen generellen Facharbeitermangel. Es mag ihn in bestimmten Regionen und bestimmten Berufen geben. Auf jeden angebotenen Arbeitsplatz kommen acht Arbeitslose. Deshalb ist es zynisch von Vollbeschäftigung zu reden und einen Facharbeitermangel zu beklagen: Wem Facharbeiter fehlen, der soll sie ausbilden! Nach wie vor gibt es ein Hauptproblem: Es fehlen Arbeitsplätze.

Die Wirtschaftskrise ist nicht vorüber, wenn Politiker ihr Ende ausrufen:
Sie ist dann zu Ende, wenn die Arbeitslosigkeit vorüber ist, wenn anständige Löhne bezahlt werden, wenn Rentner von ihren Renten in Würde leben können, wenn die Armut bekämpft ist.
Nichts ist gut. Nichts wurde nämlich getan, damit sich die Katastrophe nicht wiederholen kann. Bis in die höchsten Ränge des Staates sitzen heute die Lobbyisten des Geldes, die Bonibanker und Gewinnmaximierer. Die Reichen beherrschen die Medien.

Ein Land nach dem anderen wird mit Milliarden gerettet. Doch die Milliarden, die für die Rettung von den Bürgern Europas aufgebracht werden, wandern in die Taschen der Banken und in die Taschen der Vermögenden, die den Banken ihr Geld gegeben haben, damit sei es tüchtig vermehren.
Gerhard Schröder: Totengräber der Nation
Vor zehn Jahren wurde die alte Bundesrepublik beerdigt. Der Totengräber war der damalige Bundeskanzler Schröder. Er hielt die Trauerpredigt und kündigte vor zehn Jahren am 14.03.2003 an: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Er hat Wort gehalten.

Das Ergebnis können wir jetzt besichtigen. Mit der Parole "Sozial ist, was Arbeit schafft" ging man daran, Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis zu schaffen. Und jetzt wundert man sich, dass Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa hat. Nahezu jeder vierte arbeitet für einen Lohn unter 8,50 Euro. Während in Frankreich der Mindestlohn vor wenigen Wochen auf 9,25 angehoben wurde, schaffen wir es nicht, die alte Forderung nach einem Mindestlohn von 8,50 Euro in Deutschland durchzusetzen. Und dabei ragt der geforderte Mindestlohn gerade einmal kurz über die Armutsgrenze. Arbeit in Würde und faire Löhne sehen anders aus.
Zehn Jahre Agenda 2010 heißt:
• Gute, faire, sozialgesicherte Arbeit wurde schlecht gemacht
• Die Agenda 2010 hat schlechter Arbeit den Weg bereitet.
• Wer einmal im Niedriglohn arbeitet, der sitzt fest.
• Arbeit schützt in diesem Land nicht mehr vor Armut.
• Über sieben Millionen arbeiten in Mini-Jobs. Millionen reguläre Arbeitsplätze wurden in Arbeit zweiter Klasse umgewandelt,
• Immer mehr Arbeit wird als Leiharbeit organisiert. Leiharbeiter sind für Betriebe eine billige Alternative zu Festanstellungen. Sie verdienen weniger und ersetzen bereits in jedem vierten Betrieb Starnmbeschäftigte. Sie haben weniger Urlaubsanspruch und weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
• Befristete Arbeit ist schon ganz normal — ohne Begründung, ohne Kündigungsschutz. Ein modernes Nomadentum macht sich breit.

Der Sittenverfall auf dem Arbeitsmarkt hat einen Namen: Hartz IV. Die Hartz-Reformen haben den Druck auf Arbeitslose erhöht, jede Arbeit um jeden Preis anzunehmen. Hartz IV hat Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gezwungen auch zu Löhnen zu arbeiten, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Der Durchschnittslohn bei Niedriglöhnern beträgt 6,50 Euro, Das Problem ist aber nicht nur das Geld, sondern die Botschaft, die in diesen 6,50 Euro stecken: Deine Arbeit ist nichts wert. Acht Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, die mit ihrem Einkommen nicht einmal die Existenz sichern können.
Mit über fünf Milliarden Euro musste der Niedriglohnsektor seit Hartz IV aus Steuergeldern subventioniert werden. Die Arbeitgeber, die Niedriglöhne zahlen, plündern die Sozialkassen. Mit der staatlich finanzierten Ausbeutung muss Schluss sein.

Der Verfall der Sitten auf dem Arbeitsmarkt sieht man am deutlichsten bei der Arbeit, die schönfärberisch Leiharbeit genannt wird. Über 900.000 Menschen sind Leihweise beschäftigt — 155 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Jeder achte Leiharbeiternehmer mit Vollzeitjob muss seinen Lohn mit Arbeitslosengeld II aufstocken.
Leiharbeit ist Arbeit zweiter Klasse: Eine Arbeit für die der selbstverständliche Grundsatz nicht mehr gilt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Leiharbeit ist Arbeit im erbärmlichen Gewand: Sie erfüllt nicht einmal ihre wichtigste Funktion, nämlich ein ausreichendes Einkommen zu sichern.
Leiharbeit ist das trojanische Pferd, mit dem die Unternehmer die Mauern des Kündigungsschutzes überwinden wollen. Wer nicht mehr gebraucht wird, der kann von heute auf morgen vor die Tür gesetzt werden. Leiharbeit ist moderne Tagelöhnerei.

Doch kaum gibt es erste Regeln für eine Regulierung der Leiharbeit, da haben sich die Arbeitgeber jetzt ein neues Instrument ausgedacht: Werkverträge. Mit ihnen kann man Mindestlöhne umgehen und die Flexibilisierung der Unternehmen erhöhen. Werkverträge sind Arbeit ohne soziale Rechte. Bei Werkverträge spricht keiner mehr mit: Kein Betriebsrat, keine Gewerkschaft, kein Mindestlohn, kein Tarifvertrag.
Deshalb kann die Forderung nur lauten: Weg mit den Werkverträge aus den Betrieben. Übernahme aller Leiharbeiter in unbefristete Verträge. Wenn schon Leiharbeit, dann: Gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleiche Arbeit. Besser noch wie in Frankreich: Wenn dort Unternehmen Leiharbeiter einstellen, dann müssen sie wegen der besonderen Schwere der Leiharbeit auch einen höheren Lohn zahlen.

Hungerlöhne schaffen Hungerrenten
Sozial entsicherte Arbeitsverhältnisse schaffen Arbeitnehmer minderen Rechts und schädigen den Sozialstaat. Jeder neue Minijob, der die Arbeitslosenstatistik aufschönt, führt zu Einbußen in der Sozialversicherung, schädigt die Solidargemeinschaft und ersetzt reguläre Beschäftigungsverhältnisse durch billigere und sozial entsicherte Arbeitsplätze. Deshalb muss es ein Ende haben mit Minijobs. Die Forderung muss lauten: Kein Arbeit ohne Sozialversicherung.
Am Ende steht: ein bisschen Lohn und ein bisschen Sozialhilfe obendrauf, diese
Niedriglohnpolitik ist das Fundament der Altersarmut. Denn die Hungerlöhne von heute sind die Hungerrenten von morgen. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der vor Armut und Altersarmut schützt. Ein Mindestlohn von 8,50 kann dabei nur ein Einstieg sein.

Lassen Sie mich an Georg Ratzinger erinnern, einen Bayerischen Sozialethiker und Großonkel des früheren Papstes. Er hat vor über einhundert Jahren klar gesagt, worum es auch heute wieder geht: Wenn jemand so wenig Lohn zahlt, das man nicht davon leben kann, ist das Diebstahl an der Arbeitskraft und Diebstahl ist Sünde." Einen Lohn, von dem man nicht leben ein, müssen wir auch heute Diebstahl nennen, mit dem auch heute millionenfach Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestohlen werden,
Die Agenda 2010 und Hartz IV haben kein Jobwunder geschaffen. Wenn Unternehmen jetzt Vollzeitstellen in Teilzeit- oder Minijobs umwandeln können, freuen sich die Nürnberger Statistiker. Es gibt einen Maßstab dafür, wie es um die Arbeit steht: die Summe der Arbeitsstunden, die geleistet werden, das Arbeitsvolumen. Und die ist seit Jahren rückläufig. Deshalb wird die weniger gewordene Arbeit auf immer mehr Menschen verteilt, Die einen arbeiten immer länger und die anderen immer kürzer.
Es stimmt: Noch nie gab es so viele Erwerbstätige. Doch die Arbeit ist schief verteilt. Faktisch wird aber vorhandene Arbeit in schlechte Arbeit umverteilt. Die einen arbeiten sich tot und klagen über Burnout und Stress und die anderen sind froh einen Teilzeitjob oder einen Minijob zu bekommen. Meist sind es Frauen, die als sogenannte Zuverdienerinnen in Minijobs arbeiten. Stress, Burnout und psychosomatische Erkrankungen nehmen für die Überbeschäftigten zu. In den letzten 15 Jahren haben die Arbeitsunfähigkeitsmeldungen als Folge von psychischen Erkrankungen um 80 Prozent zu genommen. Dringend notwendig ist deshalb eine gerechte Umverteilung von Arbeit. Bereits heute wird im Durchschnitt 30 Stunden gearbeitet - doch die sind höchst ungleich verteilt.

Wir brauchen endlich eine Debatte über eine faire Umverteilung der Arbeit, damit alle Arbeit haben und niemand überarbeitet ist und niemand durch seine Arbeit krank wird. Arbeit fair verteilen, bei vollem Lohnausgleich tragt zur Vereinbarung von Arbeit und Familie bei, reduziert die Belastungen.
Prekäre Beschäftigung und Tarifflucht sorgten dafür, dass das, was IG Metall, Verdi & Co aushandeln, bei nur noch drei von fünf Beschäftigten ankommt, immer mehr Unternehmen melden sich aus den Tarifverträgen ab.

Die Folgen dieser Politik der Niedriglöhne und des Abbaus des Sozialstaat sind dramatisch und zerstören Europa: Exportiert ein Land Waren und Dienstleistungen ins Ausland und kauft gleichzeitig dort ein, führt dies in den anderen Ländern zu einer immer größeren Verschuldung der privaten Haushalte, der Unternehmen und letztlich des Staates. Die Regierung nennt dies einen Erfolg deutscher Wirtschaftspolitik. Es ist dennoch nicht sehr kompliziert zu verstehen, dass die riesengroßen deutschen Überschüsse Pleiten und Arbeitslosigkeit für die Nachbarn bedeuten.
Man kann der belgischen Regierung nur Erfolg wünschen. Sie will die deutsche
Bundesregierung vor der Europäischen Kommission wegen Sozialdumpings anklagen. Weil es keinen allgemeinen Mindestlohn gebe, könnten belgischen Wettbewerber nicht mehr mithalten. Die Europäische Kommission schloss sich dem Vorwurf des Lohndumpings bereits an. Schon im letzten Jahr hatte sie die Bundesrepublik wegen der zu niedrigen Löhne kritisiert.



Die europäische Bankenkrise wird dazu benutzt, eine neue Welle des neoliberalen Umbaus voranzutreiben. In vielen Ländern Europas finden Massenentlassungen im öffentlichen Dienst statt. Das Renteneintrittsalter wird heraufgesetzt, die Arbeitslosenversicherung beschnitten und öffentliches Eigentum weiter privatisiert, Mindestlöhne werden gesenkt, Tarifverträge und der Kündigungsschutz ausgehebelt In Griechenland wurden der Kündigungsschutz und die Tarifverträge praktisch aufgehoben, die Löhne sollen so lange sinken, bis die „Wettbewerbsfähigkeit" der Unternehmen wieder hergestellt ist. Das Gesundheitssystem wurde kaputtgespart.

Die gegenwärtige Krise ist keine Schuldenkrise. Sie ist eine Krise der Wettbewerbs- und Finanzordnung. Die Politik ist vor der Finanzwirtschaft in die Knie gegangen. Die Länder Irland, Island, Spanien, Portugal, Italien, Zypern und auch Griechenland - wenn auch mit einigen besonderen Aspekten - haben sich genauso verhalten, wie es die Finanzmärkte wollten. Man wollte die Konkurrenz der Steuersätze, man wollte die Konkurrenz der Arbeitszeiten und den Abbau des Kündigungsschutzes. Daraus geworden ist eine Europäische Union, die auf Wettbewerb beruht.
Weltmacht Finanzmärkte
Es ist allerhöchste Zeit: Die Löhne in Deutschland müssen deutlich steigen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, aber auch ökonomisch vernünftig. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft muss durch steigende Masseneinkommen an die Wettbewerbsfähigkeit unserer Partnerländer angepasst werden. Die Solidarität unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Europas wie auch die ökonomische Vernunft verlangt dringend diese wirtschaftspolitische Linie.
Wir müssen die Krise in Europa dringend und schnell überwinden, wenn wir die Gefahr für Demokratie und Frieden bannen wollen.

Die Finanzoligarchie ist die faktisch dominierende Weltmacht. Sie haben sich ihre Rettung teuer bezahlen lassen. Und jetzt werden die sozialen Errungenschaften von Athen über Madrid bis Lissabon in Frage gestellt, Löhne und Renten werden gekürzt, Staatsbedienstete entlassen, Tarifverträge zerschlagen und reguläre Beschäftigung entsichert, damit die Finanzmärkte zufrieden sind - sonst droht Ungemach.
Die Folge: Ungleichheit und Armut nehmen zu. Mehr als 80 Millionen sind rbeitslos in Europa. Prekäre Arbeit führt nicht zu mehr Beschäftigung, Armutsrenten schaffen kein höheres Wachstum. Sparprogramme und Kürzungen der Einkommen treiben die Armutsquoten hoch. Was in Griechenland passiert, ist exemplarisch und richtet sich gegen das gesamteuropäische Projekt einer sozialstaatlich unterlegten Demokratie.
Wer mit Schuldenbremsen und Fiskalpakt den Abbau der Staatsverschutdung fordert, der muss die Frage beantworten, wer denn die Staatsaufgaben künftig finanzieren soll. Die Vermögenden, das Kapital mit seinen Profitansprüchen oder die abhängig Beschäftigten, die Rentner, Arbeitslosen? Die Antwort lautet mit Sicherheit: Das Kapital nicht!
Man wird die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen zur Kasse bitten, den Sozialstaat und die öffentlichen Ausgaben reduzieren und damit die soziale und ökonomische Spaltung im Land vergrößern.
Das hatte es in Deutschland bislang nie geben: Das Wirtschaftswachstum steigt und die Armut auch. Armut trotz Arbeit ist das neue Problem. Aus arbeitslosen Armen sind arbeitende Arme geworden.
Bildung schützt vor Armut nicht. Immer mehr Berufsanfänger mit guter Ausbildung landen in irgendeiner befristeten Beschäftigung. Wer befristet arbeitet, wer einen Teilzeitjob hat, wer Leiharbeiter ist, verdient auch weniger. Die Hälfte aller prekär Beschäftigten muss sich mit einem Niedriglohn bescheiden. Das war politisch gewollt!

Das schöne Bild einer erfolgreichen Regierungspolitik wollte sich die Bundesregierung durch einen Armuts- und Reichtumsbericht nicht vermiesen Fassen.
Pech nur, dass zum ersten Mal nicht hinter verschlossenen Türen der Ministerien, sondern vor aller Augen geschönt, gestrichen, zensiert und korrigiert wurde, was nicht sein sollte. Das FDP-geführte Wirtschaftsministerium unter Philipp Rösler nämlich machte sich daran, den Entwurf des Armuts- und Reichturnsberichts passgerecht zu machen, Altersarmut — derzeit in aller Munde — wird „kein Problem" genannt, denn es gibt die Grundsicherung. Im Vorentwurf konnte man noch lesen: „Die Privateinkommen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt. Nach der FDP-Zensur fehlt dieser unschöne Satz.

Doch an der Realität kommt sogar dieser Bericht nicht vorbei: Die untere Hälfte aller Haushalte verfügt nur über gut ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die reichsten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens ihr Eigen nennen. Das oberste Zehntel wird immer reicher und die untere Hälfte immer ärmer.
Nicht anders geht es bei der Lohnentwicklung zu: Oben nimmt das Einkommen zu und unten sinken die Löhne. Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Dieser Kommentar war in der Entwurfsfassung noch zu lesen und fiel der Zensur zum Opfer. Deutschland ist reich. Deshalb hieß es auch völlig zu Recht noch im Entwurf, dass die Bundesregierung prüfen wolle, ob und wie privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann. Doch daraus wird nichts. In der Endfassung stattdessen wird die private Wohltätigkeit gelobt. "Privates Vermögen wird teilweise für wohltätige Zwecke aufgewendet". Sollen sich die Vermögenden künftig durch Spenden für das Gemeinwesen engagieren?

Umverteilung und gerechte Steuerpolitik
Die Kirchen haben in ihrem Sozialwort 1997 gefordert: „Nicht nur Armut, auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluss auf der anderen Seite geschont wird. Daran hat sich bis heute nichts geändert, in Deutschland verfügen knapp 830.000 Millionäre über ein Vermögen von 5,2 Billionen Euro. Das ist viermal mehr, als Bund, Länder und Kommunen zusammengenommen an Schulden haben.
Und während die Reallöhne seit Jahren sinken und soziale Leistungen zusammengestrichen werden, hat das Vermögen der Reichsten ein Prozent der Bevölkerung sogar in der Krise noch zugelegt: Noch nie gab es so viele Millionäre in Deutschland wie jetzt in der Krise. Es muss Schluss sein mit der Schonung der Reichen und Vermögenden!
Deshalb brauchen wir eine gerechte Steuerpolitik. Die Vermögenden, die seit Jahre geschont wurden, müssen ihren Beitrag für das Gemeinwesen leisten: Wir brauchen wieder eine Einkommenssteuer, die ihren Namen verdient. Warum wagt niemand der Parteien, einen Einkommenssteuersatz in der Höhe von 54 Prozent wieder einzuführen wie in Helmut Kohls Zeiten?
Warum ist Deutschland eines der wenigen Industriestaaten ohne Vermögenssteuer? Wir brauchen eine Vermögenssteuer. Der Reichtum oben ist in gigantischem Ausmaß gestiegen. Das Vermögen der unteren Hälfte in unserem Land ist in den vergangenen zehn Jahren um fast zwei Drittel geschrumpft! Gleichzeitig ist das Vermögen der oberen zehn Prozent um fast ein Drittel gestiegen.

Gleichzeitig ist die Armut der Kommunen gestiegen: Viele Kommunen wissen kaum noch, wie sie ihre Aufgaben ordentlich erledigen können. Unser Land ist reich genug. Doch der Reichtum ist himmelschreiend ungerecht verteilt. Deshalb brauchen wir eine Vermögensabgabe. Man wagt uns zu sagen, dass wir uns heute keinen anständigen Sozialstaat mehr leisten könnten.
Die Rentenreform von Konrad Adenauer aus dem Jahr 1957 hat auf einem Schlag Hunderttausende aus Altersarmut herausgeholt. Mit der Rentenreform wurden zwei Grundlagen für eine gerechte Rente eingeführt: Die Umlagefinanzierung und die Lebensstandardsicherung. Die Rente sollte auch hoch genug sein, um den Lebensstandard im Alter halten zu können. Sie sollte ihren armseligen Charakter verlieren und den Lohn nach einem erfüllten Arbeitsleben ersetzen sein sollte.
Und heute? Altersarmut kehrt zurück.

Wer heute 2500 Euro brutto verdient, bekommt nach 35 Jahren Arbeit nur 688 Euro Rente. Man kann die Zahl auch anders sagen' Das halbe Volk müsste im Alter Grundsicherung als Fürsorgeleistung beantragen.
Der grundlegende Wechsel in der Rentenpolitik seit der rot-grünen Koalition hat sich von Lebensstandardsicherung verabschiedet, hat das Rentenniveau abgesenkt und so die Renten um rund zwanzig Prozent bis zum Jahr 2030 gekürzt.
Die Rentenreformen haben dazu geführt, dass der Bürger seinen Lebensstandard nur sichern kann, wenn er zusätzlich zur Gesetzlichen Rente auch privat vorsorgt über die Riesterrente und eine Betriebsrente.

Die Riesterrente wurde zu einem Megageschäft der Finanzbranche. Doch nach zehn Jahren wissen wir: Die Private Vorsorge hält nicht, was Lobbyisten versprochen haben. Massenweise haben Pensionsfonds ihr Leben ausgehaucht. Die privaten Pensionsfonds haben mit 5,4 Billionen US Dollar ca. 24 Prozent des Investitionswertes in der Finanzkrise verbrannt. Das zeigt: Die kapitalgedeckte Rentenvorsorge ist ein Irrtum. Die einzige Alterssicherung, die von den Turbulenzen des Kapitalmarktes nicht berührt wird, ist das umlagefinanzierie, von der Arbeit gespeiste, gute, alte, viel gescholtene Rentenversicherungssystem.
Was zeigt die Rückkehr von Altersarmut? Armut fällt nicht vom Himmel. Armut ist politisch gemacht und ökonomisch gewollt. Aber auch: Politik kann Armut erfolgreich bekämpfen.

Nach wie fehlt bei fast allen Parteien dagegen nicht nur ein überzeugendes Konzept gegen den weiteren dramatischen Abfall der Altersrenten. Es fehlt vor allem der Mut zu sagen: Die kapitalgedeckte Riesterrente war ein Fehler, der korrigiert werden muss, Die Rentenpolitik muss wieder zu der Grundlage zurück, auf der sie Armut verhindern kann: Sie muss wieder zu einer Lohnersatzleistung werden, damit Rentner und Rentnerinnen auch im Alter ihren Lebensstandard halten können.

Der Sozialstaat gehört zu den großen kulturellen Errungenschaften wie die musikalischen Werke von Händel oder Mozart, nur dass er nicht in Konzertsälen gepflegt wird. Er ist im Leben der Menschen lebendig und wirksam. Diese Errungenschaften sind gegenüber Macht-und Interessengruppen abgerungen worden. Am Ende eines langen Kampfes um mehr Humanität und Gerechtigkeit hat sich ein Sozialstaat herausgebildet, der in der Lage ist, Umverteilung, Solidarität und Beteiligung aller Bürger zu gewährleisten. Die Wertschätzung und Stärkung des Sozialstaates gehört deshalb auf die Tagesordnung.

Europa war einmal das große Versprechen: Nie wieder sollte eine Wirtschaftsmacht so groß werden, das sie die Fundamente der Demokratie untergraben kann. Deshalb wurden nach dem Zweiten Weltkrieg der Sozialstaat und eine Soziale Marktwirtschaft aufgebaut. Aber das ist alles vorbei und vergessen. Armut, schmale Renten und Niedriglöhne kommen zurück. Banken und Regierungen diktieren von Athen bis Lissabon sinkende Löhne, sinkende Renten, Kürzungen im Gesundheitswesen und in öffentlichen Ausgaben.

Was ist Gute Arbeit?

Gute Arbeit ist eine Arbeit mit einem festen und verlässlichen Einkommen.
Gute Arbeit ist eine Quelle von sozialer Sicherheit.
Gute Arbeit ist eine Arbeit mit Rechten und mit Würde.
Und natürlich: Gute Arbeit ist mitbestimmte Arbeit. Deshalb ist es ein Skandal, wie viele Betriebe es immer noch gibt, die keinen Betriebsrat haben.

Nennen wir Ross und Reiter: Eine parteiübergreifende Koalition von FDP, CDU, SPD und Grüne hat mit der Agenda 2010 und Hartz IV die Arbeit sozialentsichert. Diese Politiker haben auch die umlagefinanzierte Rente ohne Grund und mutwillig zerstört. Sie sind verantwortlich für die millionenfache Armut mitten im Reichtum.
Armut und schlechte Arbeit in einem reichen Land sind kein Naturereignis. Das ist ökonomisch gewollt und politisch gemacht
Jetzt reicht's!
• Wir brauchen Löhne, von denen man leben kann!
• Wir brauchen Renten, die vor Armut schützen!
• Die Politik muss die umlagefinanzierte Rente wieder stark machen.
• Jeder muss von seiner Arbeit in Würde leben können. Kein Lohn unter der Armutsgrenze. Wir brauchen einen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro als Einstieg.
• Wir fordern für die Leiharbeit: Gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleiche Arbeit! Und die Übernahme alle Leiharbeiter in unbefristete Beschäftigung.
• Die Hartz-Gesetze haben schlechter Arbeit den Weg bereitet. Wir brauchen eine Grundsicherung, die vor Armut schützt — deshalb weg mit Hartz IV.
• Weg mit der Schuldenbremse und weg mit dem europäischen Fiskalpakt! Sie machen Sozialabbau zum Programm.

Diese Krise ist nicht unsere Krise. Wir lassen nicht zu, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Krise zu zahlen haben. Wir brauchen einen starken, leistungsfähigen Sozialstaat, der für sozialen Ausgleich durch solidarische Umverteilung sorgt. Soziale Gerechtigkeit heißt: starke Schultern müssen mehr tragen als schwache Schultern, Der Wohlstand unseres Landes zeigt sich nicht im Wohlstand einzelner Bürger, sondern im Wohlstand und in der sozialen Sicherheit all seiner Bürgerinnen und Bürger.

Deshalb brauchen wir:
• eine Finanztransaktionssteuer: Die Finanzjongleure müssen als Verursacher der Krise an der Finanzierung der Lösung der Krise herangezogen werden
• eine gerechte Einkommenssteuer
• die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Vermögensabgabe,
Soziale Sicherung, gute Arbeit, eine anständige Rente, die vor Armut schützt — das sind Errungenschaften, die erkämpft wurden und die wir verteidigen müssen.
Ja, wir haben etwas zu verteidigen: Den Sozialstaat in unserem Land und in ganz Europa.
Wir müssen für einen solidarischen Ausweg aus dieser Krise kämpfen. Diese Krise ist nicht unsere Krise. Lasst uns gemeinsam für ein anderes, friedliches, gerechteres und solidarischeres Europa kämpfen."




Lokales: Wissen & Umgebung

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