Lammert fordert neues Verhältnis von Politik und Wirtschaft
Festakt zum 125. Todestag Raiffeisens auf Schloss Montabaur: Bundestagspräsident Norbert Lammert als Hauptredner würdigte die Genossenschaftsbanken und ging mit den Auswüchsen der von ihm so bezeichneten "virtuellen Wirtschaft" hart ins Gericht.
Montabaur/Region. Die Raiffeisen-Welt feierte. In der Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG) auf Schloss Montabaur war es kein Geringerer als Bundestagspräsident Professor Dr. Norbert Lammert, MdB, der auf Einladung der Deutschen Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft den Festvortrag anlässlich des 125. Todestages von Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888) übernommen hatte. Vor rund 400 Gästen aus dem Genossenschaftswesen sowie aus Politik und Wirtschaft, darunter Uwe Fröhlich, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken (BVR), und Eckhard Ott, Vorsitzender des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes (DGRV), versprach Werner Böhnke, Vorsitzender der Raiffeisen-Gesellschaft und Vorstandsvorsitzender der WGZ Bank, nicht weniger als „klare Gedanken, geschliffene Sätze und humorvollen Ausdruck“ vom Festredner.
Und der Parlamentspräsident wurde allen Erwartungen gerecht, spannte den Bogen von den Anfängen der Europäischen Integration bis zur Währungsunion, die in der Einführung des Euro mündete, und zur rasanten Entwicklung der Kommunikationsmedien und der hohen Mobilität der Gegenwart, die die Globalisierung erst ermöglicht und die Welt in einen neuen Aggregatzustand versetzt habe. Dabei forderte er nachdrücklich eine „Neuvermessung des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft“. Letztere habe im Zuge der Globalisierung („Wir leben heute in einer immer größeren und zugleich immer kleiner gewordenen Welt.“) zu viel an Einfluss auf das politische Geschehen genommen oder aber Wege gefunden, sich dem politischen Einfluss zu entziehen. Die Globalisierung auf der einen, die Europäische Integration auf der anderen Seite waren es, die Lammert als die wesentlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte bezeichnete, die Politik und Ökonomie prägen. Gleichzeitig könnten Fehlentwicklungen im Bereich der Ökonomie und hier im Besonderen in der Finanzwirtschaft letztlich nur durch europaweit gültige Regelungen begrenzt werden. In jedem Fall gebe es keine Umkehr, wie er mit einem Zitat des französischen Autors Alain Minc belegte: „Globalisierung ist für unsere Volkswirtschaften das, was für die Physik die Schwerkraft ist. Man kann nicht für oder gegen das Gesetz der Schwerkraft sein - man muss damit leben.“ Und in der Folge müsse man sie eben auch gestalten.
Finanzwirtschaft braucht Regeln
Die Globalisierung, so unterstrich Lammert, habe die Auswüchse in der Finanzwirtschaft erst ermöglicht. Geldgeschäfte fänden heute virtuell statt, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Betrug das Verhältnis des weltweiten Sozialproduktes der gesamten Realwirtschaft zur Finanzwirtschaft vor zwei Jahrzehnten noch zehn zu eins, so habe sich dies heute umgekehrt. Vieles in dieser von ihm so bezeichneten „Virtuellen Wirtschaft“ sei dabei „nur Einbildung und Simulation von Wertschöpfung“. Lammert: „Das hätte sich nicht nur Raiffeisen nicht vorstellen können: dass es einmal eine Finanzwirtschaft gebe, die mit Produkten und Dienstleistungen nichts mehr zu tun hat, sondern sich selbst genügt.“ Die Folgen habe man mit Immobilienblasen und Staatschuldenkrise derzeit täglich vor Augen. Zugleich machte er deutlich, dass die Finanzwirtschaft klare Regeln brauche, die aber nicht an nationalen Grenzen enden könnten. Umso wichtiger sei es, dass die Europäische Union hier Handlungsfähigkeit beweise. Dabei räumte er ein, dass es zu den Geburtsfehlern des europäischen Binnenmarktes und des Euro - wovon keine Land mehr profitiert habe als Deutschland - gehört habe, dass die nationalen Steuersysteme, Wirtschaftspolitiken und Sozialstaatsbedingungen nicht harmonisiert wurden bzw. werden konnten. Die Hoffnung, die gemeinsame Währung würde internen Druck erzeugen, um auch die politische Union voranzutreiben, habe getrogen.
Einkommensentwicklungen nicht mehr plausibel
Kritisch setzte sich Lammert schließlich mit der Entwicklung der Einkommens- und Vermögensentwicklungen auseinander und warnte - ganz im Sinne Raiffeisens - vor dem Verlust des Gespürs für das rechte Maß. In vielen Bereichen verdienten Vorstände heute das 50- bis 100-fache des Durchschnitts innerhalb eines Unternehmens, vor 20 Jahren sei es bestenfalls das 15- bis 20-fache gewesen. Das Verhältnis von Einkommens- und Leistungsunterschieden sei nicht mehr plausibel und finde daher auch keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr.
Mit Blick auf die bereits gegeißelte „Virtuelle Wirtschaft“ sprach er von teilweise „grotesken Einkommen“ und Bonuszahlungen, die eingeklagt würden, während misslungene Transaktionen und ihre Folgen „beim Steuerzahler angemeldet werden.“ Dies alles müsse Politik heute lösen, mahnte Lammert. Andernfalls würden sich bei Wahlen Mehrheiten finden, die Lösungen anböten - gleichwohl solche, die nur aus politischen Gesinnungen und ohne jeden ökonomischen Sachverstand agierten, „bei denen uns Hören und Sehen vergehen wird.“
Dass es die Genossenschaftsbanken seien, die die Krisenjahre am überzeugendsten überstanden hätten, habe schließlich seine Gründe in den Prinzipien und Traditionen des auf Raiffeisen gründenden Gedankengutes. Raiffeisens Ideen und Werte seien alles andere als sozial-ökonomische Nostalgie aus dem vorletzten Jahrhundert, sondern geeignet, in moderner Form den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Lammert gab den Zuhörern in Montabaur den Philosophen Peter Sloterdijk abschließend mit auf den Weg: „Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne kreist, sondern dass das Geld um die Erde läuft." Auch wenn diese „Haupttatsache“ als Zustandsbeschreibung Ausdruck ungezügelter Finanzgeschäfte sei und zeige, dass ökonomischem Erfolg und wirtschaftliche Entwicklungen vieles untergeordnet werde, gelte es umzudenken. Die Volks- und Raiffeisenbanken seien hier als Wegbereiter gefordert.
Raiffeisen-Briefmarke zum 200. Geburtstag?
Dass die Genossenschaftsbanken vor allem in den Krisenjahren großes Vertrauen genießen, hatte Werner Böhnke bereits eingangs anhand der gestiegenen Mitgliederzahlen von 16 auf mittlerweile 17,3 Millionen deutlich gemacht. Insgesamt seien rund 20 Millionen Deutsche in Genossenschaften organisiert. Dass dort stets der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht das Kapital, unterstrich abschließend auch Josef Zolk für den Vorstand der Raiffeisen-Gesellschaft nochmals. Der Bürgermeister von Flammersfeld und mithin Amtsnachfolger Raiffeisens erinnerte daran, dass Raiffeisens Verdienst nicht nur in der Gründung der ländlichen Genossenschaften bestanden habe, sondern er sich zeitlebens auch für Bildung und Infrastrukturmaßnahmen einsetzte. Anders als der im gleichen Jahr geborenen Karl Marx, der das System verändern wollte, ging es Raiffeisen um die Probleme der Menschen und ihre Lösung. Dem Bundestagspräsidenten gab er neben dem Dank des Raiffeisen-Landes noch eine Bitte mit nach Berlin: 2018 stehe der 200. Geburtstag Raiffeisens an. Man werde daher beim Finanzministerium eine Sonderbriefmarke beantragen und hoffe auf entsprechende politische Unterstützung. (Andreas Schultheis)
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