Mehr als eine Lesung
Manchmal verrät ein Buch mehr über den Autoren als sich beim Lesen erschließt. Bei Marion Brasch und ihrem „Wunderlich fährt nach Norden“ ist das zumindest der Fall. Das offenbarte sich bei ihrer Lesung in Hamm – auch dank der Fragetechnik des aus dem AK-Land stammenden Moderators Michael Au.
Hamm. „Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte.“ Als Marion Brasch diesen ersten Satz für ihr Buch „Wunderlich fährt nach Norden“ schrieb, ging es der Autorin selbst nicht gut. Aber aus der damaligen Traurigkeit sei kreative Produktivität entstanden. Das ist eine der vielen interessanten Aussagen, die der Moderator Michael Au im Hammer Kulturhaus Brasch im Gespräch entlockte. Vorher hatte die Schriftstellerin Passagen aus dem Buch über Wunderlichs Reise gelesen. Aber Stopp. Sich selbst sieht die Berlinerin nämlich eher als Autorin, wie sie bei anderer Gelegenheit einem Medienvertreter mal erklärt hatte.
Schriftsteller – das seien ihre Brüder gewesen, allen voran der mittlerweile verstorbene Lyriker Thomas Brasch. Über seine Verehrung für den DDR-Kritiker wurde Moderator Au auf seine Schwester aufmerksam. Klar, dass der Literaturreferent von Rheinland-Pfalz und aus Hamm stammende ehemalige Journalist hier nachhakt. Marion Brasch reagiert da gelassen, wie sie im Kulturhaus betonte. Trotz mancher Brüche und Tragödien nerve es sie nicht, auf ihre Familie angesprochen zu werden.
Und außerdem: Sie würde zwar nie so schreiben können wie ihr Bruder. Aber es sei auch nie ihr Plan gewesen, in seine Fußstapfen zu treten, allein weil diese zu groß seien. Immerhin hätten ihre Bücher mehr Käufer erreicht als die Werke von Thomas Brasch. Und dieses große Interesse an den Büchern der Berlinern schlägt sich auch in der Besucheranzahl der Lesung in Hamm nieder. Trotz sommerlichen Temperaturen ist das Kulturhaus voll.
Enttäuscht wurden die Zuhörer nicht von Brasch. Sie liest drei Passagen aus „Wunderlich fährt nach Norden“ vor, mit dem professionellen Stimmeinsatz einer Rundfunkjournalistin, die sie ja auch ist. Nicht ohne Grund fragte Maria Bastian Erll von den Westerwälder Literaturtagen, in deren Rahmen die Veranstaltung stattfand, wieso Brasch nicht selbst die Sprecherrolle in der Hörbuchversion übernommen habe. Weil eine Männerstimme besser zu der Geschichte von Wunderlich passen würde, ist ihre nachvollziehbare Antwort.
Und worum geht in dem Buch? Um Wunderlich, der von Marie verlassen wird und in Selbstmitleid versinkt – bis ihn eine anonyme SMS zu einer Reise motiviert. Diese „Fahrt nach Norden“ verändert Wunderlich zwar nicht tief in seinem Innern, aber sie erweitert seinen Begriffshorizont. Zumindest das lässt Brasch durchblicken. Ihre Lesung endete mit einem Cliffhanger.
Bis dahin lernten die Besucher im Kulturhaus neben Wunderlich einige Charaktere aus dem Buch kennen, die definitiv Lust auf mehr machten. Beispiele? Finke, der selbst nicht gerade von Glück geschlagen ist. Oder die Fingernägel-kauende Toni. Nebenbei erhielten die Hammer Gäste auch eine Erklärung für den Hut, der auf dem Cover des Buches prangt. Aber was hat es mit diesem „Blauharz“ auf sich? Die Substanz heilt innere und äußere Wunden – um den Preis des Vergessens – und wird Wunderlich vor geradezu philosophische Zwickmühlen stellen, wie Brasch durchblicken ließ.
Anhand des Blauharzes offenbart sich die Vorliebe der Autorin für „Märchen für Erwachsene“, für reale Szenarien, wo es nicht mit rechten Dingen zugeht, wie Brasch erklärte. Sie mag es, den Leser mit Fragen einzufangen, die bis zum Schluss offen bleiben. Klar, dass zumindest nicht während der Lesung aufgelöst wurde, wer zum Beispiel der anonyme SMS-Schreiber ist. Verraten konnte Brasch aber auf jeden Fall: Es wird keine Fortsetzung des Buches geben. Allerdings werde Wunderlich vielleicht noch in anderen Geschichten von ihr auftauchen. Immerhin scheint die Schöpferin viel für ihre Figur zu empfinden: „Ich bin in abgeschwächter Form auch ein Wunderlich.“ (ddp)
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