„AsphaltVisionen“: Zwischen Staunen, Lachen und Melancholie
Eine breite Gefühlspalette sprach das Straßen-Theaterfestival in der Fußgängerzone Altenkirchens an. Ein plappernder Elefant oder ein melancholischer Senior auf Stelzen waren nur zwei Höhepunkte des Abschluss-Programms. Bei aller Kurzweil wollte das mehrtägige Spektakel aber nicht nur unterhalten.
Altenkirchen. Der junge Mann kniet auf den harten Pflastersteinen der Altenkirchener Innenstadt und schreit sich die Seele aus dem Leib. Er ist über seinen Freund gebeugt, der sich nicht mehr regt. Neben ihm liegen weitere Opfer eines Bombenanschlags. Oder waren es Raketen? Das bleibt in dieser Szene der Eigenproduktion der diesjährigen Altenkirchener Asphaltvisionen im Ungefähren. Auf jeden Fall liegt Rauch in der Luft.
Was die Zuschauer, die sich zahlreich um die Szene versammelt haben, ebenfalls nur erahnen können, aber immerhin später erfahren werden: Die beiden Männer, die gerade alle Blicke auf sich ziehen, sind Flüchtlinge. Nicht nur Zufall. Das Motto der Laienschauspielgruppe – so wie des Straßentheaterfestivals insgesamt – lautet „Altenkirchen kriegt Zustände“. An diesem Abend, wie auch an den beiden zuvor, soll sich mit alltäglichen Zuständen genauso wie weltpolitischen auseinandergesetzt werden.
Wie Deutschland mit Flüchtlingen und ihren Schicksalen umgeht, ist da ein wichtiger Bereich, dem sich die verschiedenen Künstler widmen – aber nur einer von vielen. Die Themen, die den Vorführungen zugrunde liegen, unterscheiden sich denn auch teils gravierend voneinander, genauso wie die Art der Performances. Fast alle haben gemein, dass sie sicher unterhalten und staunende Blicke hervorrufen, aber eben auch zum Denken anregen, über Politik, Gesellschaft, sich selbst oder alles zusammen. So wie beim Auftritt der Gruppe „Teatr Formy“ aus Polen.
In ihrem Stück „Babel“ fügen sie sich dynamisch ein in ein faszinierendes Spiel aus Licht, Schatten, Tönen und Farben. Das Konzept dahinter wurde nach den Anschlägen am 11. September erdacht und basiert auf persönlichen Betrachtungen und den damit verbundenen Fragen. „Babel“ zeigt die Verwandlung eines Mannes, der gefangen ist zwischen Streben nach dem Traumidel und seiner eigenen Mangelhaftigkeit.
Weniger politisch, dafür mindestens genauso persönlich und künstlerisch faszinierend war vorher der Auftritt von „cie.dreifrauendietanzen“. Auf der Bühne des Markplatzes verbanden sie eindrucksvoll Tanz, Theater und zeitgenössischen Zirkus zu einem Stück über Liebe, Verluste und Lebensmut. In den verschiedenen Szenen verarbeiteten die Berliner Künstlerinnen mittels Körpersprache Krisenmomente rund um Themen wie Liebe, Tod, Stagnation oder Überlebenswillen.
Für Auflockerung am früheren Abend hatten „Jochen der Elefant“ und Shiva Shrings gesorgt. Jochen, eine sympathische Puppe, fuhr auf seinem Dreirad durch die Fußgängerzone und zog dabei nicht nur Kinder in seinen Bann. Denn der kleine Elefant erwies sich als scherzende Plaudertasche, die um keinen Spruch verlegen ist.
Nahezu ohne Worte kam Shiva Shrings aus. Und genau darin lag die Kunst des stummen Clowns in Lumpen. Sicher, mit dem kreativen Umgang der Gegenstände aus seinem Seesack oder dem Spiel auf der Ukulele hatte der Ire die Lacher schon auf seiner Seite. Aber seine Höhepunkte erlebte die Performance immer dann, wenn er geschickt an der Grenze zur Provokation das Publikum involvierte – seien es Kinder, Senioren oder auch Hunde. Er „stahl“ vor den Augen aller verschiedene Habseligkeiten oder Essen und verwertete sie für spontan-gekonnt für seine Show. Faszinierend, wie es ihm zum Beispiel gelang, eine Frau und einen Mann aus den Besucherreihen für eine Restaurant-Szene einzuspannen. Von clownesker Virtuosität war auch der Kleidertausch mit einem Zuschauer geprägt.
Lacher aus dem Publikum löste auch Teatro Só aus, vor allem dann, als er einen Jungen und einen jungen Mann, zufällig den Autoren dieses Artikels, in seine Aufführung "Sómente" integrierte. Aber Humor stand definitiv nicht im Vordergrund des Stücks auf dem Schlossplatz. Stattdessen Melancholie und das Nachdenken über die Einsamkeit des Alters. Dazu brauchte es nicht mehr als eine riesige grüne Park-Bank und anmutige Musik. Und natürlich den Protagonisten, einen Mann, der auf Stelzen alle Blicke auf sich zog. Manchmal gebrechlich wankend, manchmal beschwingt Halbkreise tanzend, manchmal erschöpft am Boden liegend oder von der Mega-Bank aus imaginäre Tauben fütternd mit Brotkrumen. Allein mittels Mimik und Gestik gelang es dem Schauspieler virtuos die gesamte Gefühlpallette eines Mannes im Lebensherbst abzubilden.
Der Lohn: Ein bewegt-begeistertes Publikum, das zuvor von der Laien-Theatergruppe der Asphaltvisionen über die Gassen der Altenkirchener Innenstadt gelotst worden war. Denn die eingangs erwähnte Eigenproduktion des Straßentheaterfestivals war zwischen den einzelnen Szenen hoch zum Schlossplatz gewandert. Der Nebeneffekt dieses Aufführungskonzepts: Die Zuschauer blieben immer in Bewegung, genauso wie die Aufführung insgesamt. Beachtlich, was die Schauspieler zwischen 12 und 49 Jahren da in weniger als einer Woche auf die Beine gestellt hatten unter der Regie von Rike Radloff und Andrea Neumann. Nicht nur der Umgang mit Flüchtlingen wurde von den Laiendarstellern in verschiedenen Szenen verarbeitet. Ebenfalls Themen wie Konsumwahn, Rassismus gegenüber Homosexuellen oder gar globale Krisen generell stellten „Altenkirchen kriegt Zustände“ an den Pranger. Als die Gruppe schließlich auf dem Schlossplatz angelangt war, wurde schließlich deutlich, was für eine beachtliche Menge an Zuschauern die Aufführung angelockt hatte.
Insgesamt schätzt die Organisatorin des Kultur-Festes, Rebecca Staal, die Publikumsanzahl dieses Abends auf etwa 1500 bis 2000. Ähnlich viele fanden ihrer Einschätzung nach auch am Freitag den Weg in die Innenstadt. Generell gibt sich Staal mehr als zufrieden mit der Bilanz des dreitägigen Festivals. Gleichzeitig sieht sie noch Kapazitäten: „Es könnte immer noch mehr Publikum sein“, sagte sie dem Kurier. Außerdem hofft die 28jährige sehr, dass auch in zwei Jahren wieder die Asphaltvisionen stattfinden können, dann in ihrer sechsten Auflage. Auch deshalb wirbt sie um Mitglieder für den gleichnamigen Förderverein. (ddp)
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