Interkulturelle Kompetenz als Mittel gegen Fremdenangst
Wo liegen Unterschiede zwischen Kulturen, insbesondere zwischen der islamischen und der westlichen? Darum ging es nun in einem Vortrag auf einer Veranstaltung des „Lokalen Netzwerks Kinderschutz“. Die Referentin gab interessante Einblicke in verschiedene Ansätze von Familie und Jugend in den Kulturen der Welt.
Altenkirchen. Dieses Jahr werden nach Schätzungen rund eine Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, nach Deutschland kommen. Grundsätzlich ist Deutschland schon längst Einwanderungsland. Das Zusammenleben wird immer interkultureller. Das Risiko ist dabei allerdings groß, dass verschiedene Kulturen aufeinanderprallen. Wie kann dem vorgebeugt werden? Ansätze lieferte nun die Ethnologin Sandra de Vries bei der achten Großveranstaltung im Rahmen der „Lokalen Netzwerke Kinderschutz“ im Kreishaus. Die grundsätzliche Antwort von de Fries lautet „Interkulturelle Kompetenz“. Um diese aber zu erlangen, müsse man an sich arbeiten. Denn der Gegenüber sei schwer zu ändern. Änderungen im Verhalten müssen immer vom Menschen selbst kommen, so de Vries. Dazu müsse man allerdings erst mal über sich selbst bewusst werden. Schließlich könne Unsicherheit zu Angst vor Fremden führen.
Vor diesem Hintergrund erläuterte die Ethnologin die unterschiedlichen gesellschaftlichen Modelle, die in Deutschland und einem großen Teil der restlichen Welt vorherrschen. So handele es sich in der Bundesrepublik um eine „Ich-Gesellschaft“. Der einzelne entscheidet demnach für sich allein und ist für seine Handlungen selbst verantwortlich. Die meisten Flüchtlinge kommen allerdings aus einer „Wir-Gesellschaft“ und müssen sich somit erst umorientieren oder entsprechend trainiert werden.
Hier spielt sicher auch eine Rolle, ob ein Migrant freiwillig nach Deutschland gekommen ist, oder ob ihm Krieg, Katastrophen und Verfolgung dazu zwangen. Denn dann sei man unvorbereitet und mental nicht auf das neue Land eingestellt, wie de Vries zuvor erklärt hatte. Eine große Umstellung liegt zum Beispiel in der unterschiedlichen Bewertung von Familie. Viele Gesellschaften in der Welt haben hier einen sehr ausgedehnte Interpretation. Zur Familie gehören demnach nicht nur Vater, Mutter, Kind – sondern auch Großeltern, sogar Cousinen mehrfachen Graden. „Alles, was man aufzählen kann“, so de Vries. Wenn ein syrischer Flüchtling nun alleine nach Deutschland komme, fühle er sich also „sozial amputiert“. Deswegen seien Smartphones für die Einwanderer auch so wichtig, da mit ihnen der Kontakt zu den Verwandten aufrecht erhalten werden könne.
Ein weiterer Aspekt der kulturellen Unterschiede: Eine andere Bewertung von Erziehung und Kindheit. So sei es weltweit nicht unbedingt die Regel, dass die Eltern hauptsächlich für die Erziehung zuständig sind, sondern eben an erster Stelle Tanten, Onkel oder Großeltern. Zudem ende die Kindheit auch früher, bei Mädchen zum Beispiel mit der ersten Menstruation.
Im Speziellen ging de Vries außerdem auf Besonderheiten in islamischen Gesellschaften ein. Ihre erste Lehre: „Den einen Islam gibt es nicht.“ Man müsse differenzieren. Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, wie die Ausprägung der Religiosität. Zumindest grundsätzlich seien islamische Familien sehr auf Status und Hierarchie aufgebaut. Der erstgeborene Sohn steht demnach an erster innerhalb der Familienrangordnung. Ihm werden die Werte der Familie am stärksten vermittelt, so dass er als „Visitenkarte“ der Sippe nach außen entsprechend repräsentieren kann. Familienoberhaupt ist der älteste Mann innerhalb der Familie. Was aber, wenn der Sippenanführer gar nicht in Deutschland lebt, sondern in der einstigen Heimat? Mittlerweile könne sich hier mit digitalen Kommunikationsmittel ausgeholfen werden, erklärte de Vries. Das berge allerdings wiederum Schwierigkeiten. Denn das Familienoberhaupt im Ausland wisse natürlich kaum Bescheid darüber, wie Deutschland „ticke“.
Ein weiteres Merkmal islamischer Familien besteht außerdem in den klaren Rollenbildern, die Männern und Frauen zugewiesen werden. So seien Mädchen und Jungs im Koran gleichgestellt, aber gleichzeitig „anders“, sagte de Vries. Deshalb seien Unterscheidungsmerkmale wichtig, also unterscheidbare Frisuren oder Berufe. Ein Charakteristikum von islamischen Familien sei zudem, dass Frauen für den „inneren Raum“, also den Haushalt, zuständig seien und Männer für den „äußeren“. Wenn diese beiden Welten gekreuzt würden, seien „Anstandsdamen“ nicht unüblich.
Welche Rolle können bei solchen Unterschieden zwischen den Familienmodellen Kinder einnehmen? Laut de Vries stelle der Nachwuchs hier ein Chance dar, Brücken zu bauen zwischen den Kulturen. Zudem sieht die Ethnologen grundsätzlich neue Kulturen auch als Bereicherung an: durch sie könnten neue Ideen eingebracht werden und neue Inspirationsquellen erschlossen werden. Dazu müsse man „Komfortzonen“ verlassen und Kompromisse suchen.
Um neue Kulturen, die zu uns kommen, drehte sich auch das Grußwort des Kreisbeigeordneten Klaus Schneider. Er ist für den Geschäftsbereich Jugend und Familie zuständig. Schneider betonte, dass der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund immer höher werde. Er hätte sich auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingswelle längst ein entsprechendes Einwanderungsgesetz gewünscht. Grundsätzlich machte der Beigeordnete einen gesellschaftlichen Wandel aus. Demnach sei die Schule immer mehr für die Erziehung von Kindern zuständig. Zudem ging Schneider auf Umstellungen innerhalb des Jugendamts ein. Man habe ein neues Fachkonzept erstellt und Personal eingestellt. Grundsätzlich stellte er heraus, dass Kinderschutz viel mehr bedeute als bei Krisen einzugreifen, sondern bereits vorbeugend tätig zu werden. Für entsprechende Maßnahmen würden auch gerne Haushaltsmittel bereitgestellt.
Mark Schneider, einer der beiden Koordinatoren des „Lokalen Netzwerks Kinderschutz“ erklärte vor dem nahezu voll besetzten Saal, das ab nächstes Jahr auch wieder vermehrt lokale Veranstaltungen stattfinden würden. Es habe innerhalb des Netzwerks personelle Veränderungen gegeben. So ist Jason Wagner nun zusammen mit Schneider einer der beiden Koordinatoren des Netzwerks. Der Nachfolger von Melanie Sühnhold referierte auch kurz über die geschichtliche Entwicklung der Erziehungsmodelle, angefangen beim Mittelalter. Die Lehre aus seinem Vortrag: Familien- und Erziehungskultur sind stets im Fluss und ändern sich mit der Zeit. (ddp)
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