Buch zu Raiffeisens Reise nach Oberschlesien erschienen
Josef Zolk stellt das neue Buch von Albert Schäfer aus Willroth vor, der sich mit Friedrich Wilhelm Raiffeisen und seiner Reise nach Oberschlesien eingehend beschäftigte. Schäfer kann aufgrund seiner profunden Kenntnisse nachweisen, dass die preußische Regierung 1880 Raiffeisen mit einem Sozialbericht beauftragte.
Willroth/Flammersfeld. Wieder hat der kenntnisreiche Heimatforscher Albert Schäfer mit seiner im Eigenverlag erschienenen Schrift: F.W. Raiffeisens Reise nach Oberschlesien eine Informationslücke in Sachen Raiffeisen schließen können. Die im Herbst des Jahres 1880 (der fast blinde Raiffeisen war 62 Jahre alt und längst wegen seines Augenleidens aus dem aktiven Bürgermeisterdienst in Heddesdorf ausgeschieden) im Auftrag des preußischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten durchgeführte Reise nach Oberschlesien und der dazu erbetene Sozialbericht über die Lage der dortigen ländlichen Bevölkerung war bisher nur wenigen Fachleuten bekannt.
Dieser Bericht stellt neben dem Buch über die Darlehenskassen-Vereine, das in vielen Auflagen erschienen ist, die nächstgrößere literarische Hinterlassenschaft Raiffeisens dar. Schäfer, der in den letzten Jahren auch eine Broschüre zum Verhältnis Raiffeisens zu seinem großen Förderer Fürst Wilhelm zu Wied veröffentlicht hat, kann auf Grund seiner guten Kenntnisse der Aktenlage im Fürstlichen Archiv zu Neuwied nachweisen, dass Fürst zu Wied der preußischen Regierung vorgeschlagen hatte, Raiffeisens Kenntnisse zu nutzen, um die Lebenssituation der ländlichen Bevölkerung in Oberschlesien zu analysieren. Dabei spielten die große Erfahrung und die bemerkenswerte Fähigkeit des Sozialreformers Raiffeisens zur Sozialanalyse, die er in seinen Jahren als Bürgermeister in Weyerbusch, Flammersfeld und Heddesdorf und danach als Genossenschaftsgründer nachdrücklich bewiesen hatte ebenso eine zentrale Rolle wie Raiffeisens Glaubwürdigkeit.
Raiffeisen, der von seinem jungen Mitarbeiter Martin Faßbender auf der rund zwei Monate dauernden Reise (in Oberschlesien selbst vom 27. September bis zum 11. Oktober 1880) begleitet wurde, suchte alle oberschlesischen Landkreise (Ratzibor, Rybnik, Plehs, Cattowitz, Oppeln) auf und referierte an vielen Orten über die Darlehenskassen-Vereine und warb so neben der Analyse der Gesellschaft natürlich auch für seine Ideen. Wichtig ist, dass Schäfer auf die Begegnung Raiffeisens während seiner Oberschlesienreise mit dem österreichischen Professor Marchet, der vier Jahre vorher Oberschlesien bereist hatte, hinweist, denn ohne Marchet, mit dem Raiffeisen viele Jahre einen intensiven Austausch und eine Freundschaft pflegte, wäre die Genossenschaftsidee Raiffeisens so nicht nach Österreich gelangt.
Schäfer macht deutlich, dass Raiffeisen in seinem fast in Erzählform verfassten Bericht viele Aspekte der oberschlesischen Gesellschaft beschreibt und nennt
•die defizitäre pekuniäre Situation im ländlichen Raum,
•den Charakter der Menschen, wie er ihn wahrnimmt,
•den mangelnden Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit,
•die Bildung und die Kindererziehung (mangelnder Schulbesuch, „Hütekinder“),
•den moralischen Zustand (u.a. Alkoholmisbrauch, „Schlafburschen- und Schlafmädchenwesen“,
•die soziale Unterschiedlichkeit der Klassen (ausgeprägter Großgrundbesitz bei weit verbreiteter Besitzlosigkeit der Arbeiterschaft),
•die fatale Rolle des Wuchers,
•die extrem durchgeführte Realteilung des Kleinbesitzes,
•das unwirtschaftliche Feldwegesystem,
•fehlende Strom- und Flussregulierungen,
•erforderliche Drainagearbeiten.
Zusammenfassend kommt Raiffeisen, so Schäfer, zum Ergebnis, dass sein Genossenschaftssystem einen zentralen Beitrag zur Gesundung der Region leisten könne und das nicht nur im Hinblick auf die pekuniäre Situation in Oberschlesien sondern insgesamt als Beitrag zur Volkserziehung.
Am 3. November 1880 liefert Raiffeisen den Bericht, der sich nicht allein mit rein ökonomischen Defiziten, sondern explizit auch sehr mit gesamtgesellschaftlichen Defiziten beschäftigt, beim preußischen Ministerium ab. Schäfer nennt den Bericht ein Lehrschreiben, das Raiffeisen dem ihn sehr schätzenden zuständigen Minister Dr. Lucius sendet. Raiffeisen geht es in erster Linie um eine dringend notwendige Erziehung der ländlichen Bevölkerung. Er nennt Werte wie Fleiß, Ordnung, Redlichkeit, Lernwille, Leistungsbereitschaft und Wille zur Selbsthilfe ebenso wie die Schaffung einer Vermögensbildung durch den preußischen Staat als wesentliche Voraussetzungen für eine bessere Entwicklung.
Schäfer nennt immer wieder Querverweise in dieser Broschüre und lenkt den Blick nicht allein auf die Oberschlesienreise Raiffeisen, sondern beleuchtet unter anderem das vertrauensvolle Verhältnis zum Fürsten zu Wied, das sich wandelnde Verhältnis zu seinem Reisebegleiter Martin Faßbender, der sich im Streit von Raiffeisen trennt, obwohl er für große Aufgaben im Genossenschaftssystem vorgesehen war und später Reichstagsabgeordneter und Wirtschaftsprofessor wurde. Der Autor beschreibt auch die weitere erfolgreiche Entwicklung des Genossenschaftswesens in Oberschlesien, die Kontakte Raiffeisens zum preußischen Ministerium und zitiert bezüglich der von jüdischen Händlern praktizierten Wuchermethoden den profunden Raiffeisenkenner Professor Michael Klein, der bilanziert: „Keinesfalls wird man von einem rassischen Antisemitismus Raiffeisens sprechen dürfen“.
Wichtig sind zwei weitere Hinweise Schäfers:
1. Es sind keine direkten Reaktionen der preußischen Regierung auf Raiffeisens Bericht bekannt, obwohl Raiffeisen nachhakt.
2. Raiffeisen kritisiert in aller Schärfe das Unwesen des Wuchers, unabhängig davon, wer das Wuchergeschäft treibt. Zusammenfassend kann man sagen, Schäfer ist es wieder gelungen, eine wichtige Facette der Lebensleistung von Raiffeisen ins Bewusstsein zu bringen. (Josef Zolk, August 2016)
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