„Wer in dieses Büchlein schreibt ...“ - Das Poesiealbum weckt Erinnerungen
Es ist farbig gestaltet, hat einen Stoff- oder Ledereinband und in vielen Fällen einen Verschluss. Teilweise selbst gemalte und eingeklebte Blumen- und Engelbilder sowie in bester Schönschrift niedergeschriebene Zukunftswünsche machen es zu einem Kunstwerk und deshalb so wertvoll: Das Poesiealbum. Vor Jahrzehnten war es bei Kindern ein beliebtes Weihnachtsgeschenk. Der Ursprung geht dabei zurück bis ins 16. Jahrhundert. Heute werden die Poesiealben Anno Dazumal, abgelöst von so genannten Freundebüchern und natürlich Social Media, immer mehr den Raritäten zugeordnet.
Region. Poesiealben sind ein wohl gehüteter Schatz mit ewigen und vielen Jahrzehnten alten Erinnerungen aus Kindertagen und der Jugendzeit. In die heute aktuellen Freundebücher, Alben mit vorgedruckten Fragebögen und „weißen Ecken“, werden steckbriefmäßig persönliche Daten, Hobbies und Wünsche eingetragen, dazu ein Bild eingeklebt. Poesiealben haben in der Advents- und Weihnachtszeit eine besondere „Hochkonjunktur“. Großmütter und Urgroßmütter kramen ihre Schätze hervor, um die Inhalte und damit verbundenen Erinnerungen nachfolgenden Generationen zu übermitteln.
Schriften werden entziffert
Ehrfürchtig werden dann die überwiegend abgegriffenen und vergilbten Seiten umgeblättert, die altdeutsche Schrift entziffert und sich an die Gesichter der damaligen Kinder erinnert, deren Einträge ringsum mit bunten Blumen und Herzen, aber auch mit romantischen Engeln verziert wurden. „Wer in dieses Büchlein schreibt, den bitt' ich stets um Sauberkeit. Reiß mir keine Seiten raus, sonst ist es mit der Freundschaft aus“, heißt oft der erste Spruch im Büchlein; in kindlicher Schrift, sauber und ordentlich geschrieben, besser gesagt „gemalt“.
Hin und wieder geben die Sprüche Anlass zum Schmunzeln: „Siehst Du ein Vergissmeinnicht, pflück es ab und denk an mich“, „Bleib gesund, bis zwei Kirschen wiegen ein Pfund“ oder „Wenn du einst in späten Jahren wieder in dein Album blickst, die Gedanken deiner Jugend rückwärts schickst, denk an manche Freundin, die dir hold und lieb, denk an mich, die ich dir dies ins Album schrieb“.
Vom Poesiealbum zum Kritzkratz-Freundebuch
Poesiealben sind etwas sehr Persönliches. Die altehrwürdigen Poesiealben haben dabei nichts von ihrem Zauber eingebüßt. Das gute alte Poesiealbum ist längst noch nicht „out“, es heißt heute nur anders: „Meine Schulfreunde“, „Meine liebsten Freunde“, „Mein Kritzkratz-Freundebuch“. Und die neue Form wird ebenso heiß geliebt wie das gute, alte Poesiealbum, in dem vor allem Inhalte wie Freundschaft, Lebensmut, Erinnerung, Glauben, Ratschläge, aber auch Lustiges zu lesen ist. Früher hatte jedes Mädchen sein eigenes Poesiealbum, in das zuerst die Mutter, der Vater, die Geschwister, die Paten und dann gute Freundinnen und Freunde, aber auch der Lehrer einen Sinnspruch eintragen und ein buntes Bildchen einkleben mussten. Kein Poesiealbum gleicht dem Anderen. Nur eines haben sie gemeinsam: Sie sind bereits durch viele Hände gegangen. Und das ist dann 80, 90 oder mehr Jahre her.
Die tiefsten Wurzeln des Poesiealbums sind in den Stamm- oder Wappenbüchern des Adels zu suchen. Im Mittelalter wird hier die Zugehörigkeit zu einem Familiengeschlecht ausgewiesen. Als eine Art Adelsbrief berechtigt er zur Teilnahme an Turnieren. Stammbücher dokumentieren über eine lange Zeit die Zugehörigkeit zur Oberschicht. Sie enthalten deshalb die Lebensdaten der Mitglieder einer Familie sowie Familienereignisse. Geschmückt werden die Seiten mit gemalten Wappen der Familien oder mit frühen Drucken.
In der Renaissance greifen die Gelehrten diesen Brauch auf. Den Familiendaten werden nun Glück- und Segenswünsche von Verwandten und Freunden sowie Zitate aus der Bibel hinzugefügt. Gemalte und gezeichnete Bilder illustrieren den Inhalt. Später beginnen auch Studenten ein Stammbuch zu führen. Die Anfänge des studentischen Stammbuches lassen sich in den frühen 1540er Jahren im reformatorischen Umfeld von Wittenberg, der damals bedeutendsten deutschen Universitätsstadt, lokalisieren. Von diesem Ort aus verbreitet es sich im ganzen deutschen Sprachraum. Für lange Zeit – bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein ¬– findet sich immer im Reisegepäck der Studenten auch ein Platz für das Stammbuch, das Verwandten, Freunden, Gönnern, Professoren und Bekannten mit der Bitte um eine Eintragung in die Hand gelegt wird.
Ein Erinnerungsbüchlein mit inniger Zuneigung
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigen sich immer öfter auch andere Schichten als Träger des Stammbuches, so junge Adlige und Patrizier. Reisende Diplomaten und Kaufleute sowie wandernde Handwerksgesellen, sogar Militärs und Musiker greifen diese neue Mode auf. Die Tradition des Stammbuches wird im 17. Jahrhundert schwächer. Sie erfährt dann wieder eine Belebung im 18. Jahrhundert und erreicht eine neue und nachhaltige Blütezeit zwischen 1790 und 1850. Besonders die Frauen nehmen sich der Erinnerungsbüchlein mit fast inniger Zuneigung an.
Wurde die Ausschmückung des Stammbuches früher von Künstlern vorgenommen, sie malten direkt in die Bücher oder boten auch Serien illustrierter Blätter zum Einfügen in die Alben an, so wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Schmücken der Alben in die „eigenen Hände“ genommen. Zu den Zeichnungen, Malereien und Scherenschnitten kommen gepresste Blumen, Stickereien und Seidenbänder hinzu.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert das gebundene Buch. Auf dem Einband erscheinen nun immer öfter die Titel „Album“ und „Poesie“. Letzterer Name setzt sich schließlich durch. Eine massenhafte Verbreitung finden die Poesiealben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sie werden eine Modeerscheinung. Heute wie früher stellen sie die zwischenmenschlichen Beziehungen dar. In ihnen spiegelt sich vielfältig die Zeit wider, in der sie geführt wurden. (Rolf-Dieter Rötzel)
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