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Nachricht vom 02.05.2010    

Professor Sell machte Gewerkschaftern Mut

Die zweite zentrale 1. Maiveranstaltung in der Werkhalle der Westerwaldbahn auf der Bindweide war zwar mit gut 100 Teilnehmern recht gut besucht, doch hätten sich die Veranstalter vor allem mehr jüngere Teilnehmer gewünscht. Dennoch gingen die Teilnehmer zufrieden nach Hause: Hauptredner Professor Dr. Stefan Sell hatte ihnen mit seiner mitreißenden Ansprache neuen Mut gemacht.

Kreis Altenkirchen/Bindweide. "Dem Morgenrot entgegen" sang Jörg Brück während der zentralen Maiveranstaltung des DGB im Kreis Altenkirchen auf der Bindweide. Dass es mit dem "Morgenrot" - zumindest aus gewerkschaftlicher Sicht - soweit nicht her ist, das legte der Referent des Tages, der Sozialwissenschaftler Professor Dr. Stefan Sell von der FH Koblenz, Campus Remagen, anschließend gnadenlos offen. Obwohl: Es liegt auch an der Gewerkschaft selbst, dass sich die neoliberalen Zeiten wieder wenden. Aber dazu braucht es auch "die junge Garde" wie es in dem alten Arbeiterlied von 1907 heißt. Die machte sich jedoch auf der Bindweide recht rar. "Das ist eine 50-plus-Veranstaltung", meinte denn auch einer der Teilnehmer schon etwas resignativ. Obwohl, so machte Sell den gut 100 Gewerkschaftern klar, Grund zur Resignation besteht nicht. Mehr denn je aber zum Aufbruch.
Sell setzte sich ebsnso detailliert wie fundiert mit dem Motto des DGB zum 1. Mai auseinander: "Wir gehen vor. Gute Arbeit. Gerechte Löhne. Starker Sozialstaat." Und setzte zugleich ein Fragezeichen: "Darf man so etwas heute überhaupt fordern?" Ja , man darf. Auch wenn das seine Studenten zum Teil nicht verstünden. Sell ließ aber keinen Zweifel: "Die Zeiten stehen auf der Kippe." Und meinte damit auch die Situation in Griechenland und weiteren EU-Ländern.
Als eine Täuschung sieht der Wissenschaftler die von der Arbeitsagentur herausgegebenen neuesten Zahlen, die von der Politik so bejubelt werden. Man dürfe dabei nicht vergessen, dass die Zahl der Unterbeschäftigten deutlich gestiegen sei - über eine Million mehr - die Kurzarbeit müsse man berücksichtigen und die neuen Jobs seinen keine, "von denen Gewerkschaften träumen können." Und vergessen dürfe man auch nicht die Wachstumsraten in Sachen Zeitarbeit. Alles in allem: Statistik als Trugbild.
Kein Trugbild allerdings: Das Jahr 2009 sei ein gutes Jahr für Spekulanten gewesen. Die hätten die riskantesten Geschäfte mit den größten Gewinnen gemacht. Wobei das Risiko für die Finazjongleure überschaubar gewesen sei: Das Schutzschild für die Banken habe das Risiko für diese Leute kalkulierbar gemacht.
Auch Ackermann und Konsorten nahm Sell ins Visier. Banken und Versicherungen hätten sich für 1 Prozent Geld geliehen, um griechische und spanische Staatsanleihen zu kaufen, um diese dann für 6 bis zu 9 Prozent zu verzinsen. Nur deshalb seien diese Leute auch an einer staatlichen Hilfe beispielsweise für Griechenland interessiert, damit ihre Kredite sicher bedient werden können. So sieht laut Sell die Hilfe für Griechenland seitens der Banken aus. Der Steuerzahler müsse letztlich dafür geradestehen. Die Folge, so prophezeite der Professor, würden steigende Sozialbeiträge und ausbleibende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmer sein. Außerdem erwartet Sell mittelfristig eine drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Angesichts dieser Situation müsse man über Alternativen nachdenken. Sell stellte dar, dass die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen um 20 Prozent eingebrochen seien. Gleichzeitig seinen die Sozialausgaben drastisch gestiegen. Sell: "Alles, was noch offen ist, wird jetzt geschlossen." Aber das sei wie der Kampf gegen Windmühlenflügel. Die eingesparten Mittel seien minimal, die Auswirkungen auf die Lebensqualität aber dramatisch. Deshalb sei es ein Gebot der Stunde, über eine andere Finanzverteilung zu sprechen. Warum zum Beispiel müssten Steuergelder für länger geöffnete Kindertagesstätten ausgegeben werden, wenn Supermärkte von länger geöffneten Läden profitieren? In diesem Zusammenhang sprach Sell auch den Privatisierungswahn bei öffentlichen Diensten in den vergangenen Jahren an. Jetzt werde wieder zurückgerudert - und: "Die Arbeit liegt auf der Straße." An dieser Straße lägen beispielsweise viele öffentliche Gebäude, die mehr und mehr verfallen, aber eigentlich schon längst hätten saniert oder ersetzt werden müssen. Stattdessen habe man gnadenlos von der Substanz gelebt. Nun gebe es einen Investitionsbedarf in schwindelerregender Milliardenhöhe. Auch darüber müsse man diskutieren, bevor die öffentliche Infrastruktur mehr und mehr verfalle. Allein in Westdeutschland brauche es etwa 700 Milliarden (!), um diesen Verfall aufzuhalten. Sell sagte, wenn dies so weiter gehe, "dann sind wir bald auch Griechenland." Eine Menge Arbeit also.
Aber Sell malte nicht nur schwarz. Erfreulich seien auch Erfolge der Gewerkschaften. So etwa im Fall Schlecker. Dass man Anton Schlecker dazu gebracht habe, überhaupt zu verhandeln, sei schon erstaunlich. Aber aus diesem und anderen Fällen müsse man lernen: Den Arbeitnehmern müsse klar gemacht werden, wie wichtig es ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Man müsse den Meynschen klar machen - gerade auch in diesen Branchen: "Ihr habt die Pflicht, euch für eure Interessen zu organisieren. Alleine habt ihr keine Chance." Keine Chance zum Beispiel gegen gnadenloses Lohndumping, das Sell auch den Kirchen vorwarf. Dort werde Lohndumping geziehlt betrieben und die Betroffenen könnten sich kaum wehren, weil sie nicht streiken dürfen.
Auch auf die Frage Mindestlohn ging Sell ein und stellte fest: Die Mindestlohnforderungen, so berechtigt sie auch seinen, seien zugleich ein Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften. Dennoch: Gute Arbeitgeber seien durchaus für diese Forderung zu gewinnen, wie es der Fall der Gebäudereiniger gezeigt habe. Der Trend zu Niedriglöhnen müsse unbedingt gestoppt werden. Und er nannte hierzu eine beeindruckende Zahl: Waren in den 90er Jahren noch 12 Prozent der Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt, sind es jetzt 24 Prozent. Da fehlen nur noch 1,2 Prozent, um zu den USA aufzuschließen. Man brauche deshalb ein Sicherheitsnetz nach unten, forderte Sell. Und gab den Gewerkschaften noch eins mit auf den Weg: "Die Zeiten werden härter - und dann müssen auch die Auseinandersetzungen härter geführt werden."
Zu Beginn der Veranstaltung hatte der neue Kreisvorsitzende des DGB, Frank Näckel, als Gäste unter anderem Bürgermeister und 1. Kreisbeigeordneten Konrad Schwan, die Abgeordneten Dr. Matthias Krell und Thorsten Wehner, Daadens Bürgermeister Wolfgang Schneider, ganz besonders aber seine Vorgänger Franz Schwarz und Willi Plattes, der am 13. Mai 90 Jahre alt wird, begrüßt. MdL Dr. Josef Rosenbauer ließ sich entschuldigen - er war am Tag zuvor Vater geworden. Für ihn also ein Tag der Arbeit der besonderen Art.
In seiner Begrüßung wandte sich Näckel gegen einen entfesselten Kapitalismus und sprach sich für einen handlungsfähigen Sozialstaat aus. "Darauf haben wir ein Recht", sagte Näckel. Näckel geißelte die zögerliche Haltung im Falle Griechenlandhilfe. Dieses Land solle wohl zum Versuchslabor für ganz Europa in Sachen Lohndumping werden. Dem gegenüber gesetzt werden müsse die Solidarität aller arbeitenden Menschen in Europa.
1. Kreisbeigeordneter Konrad Schwan, der in Vertretung des in Polen weilenden Landrates Michael Lieber gekommen war, erinnerte an die große gwerkschaftliche Tradition im Gebhardshainer Land - trotz der "schwarzen" Wählerstruktur. Schwan freute sich, dass der DGB jetzt im Kreis Altenkirchen wieder einen kompletten Kreisvorstand hat. Zu einer sozialen Marktwirtschaft gehörten auch starke Gewerkschaften, sagte Schwan. Bedauerlich sei, dass sich viele Menschen nicht mehr in Organisationen binden möchten. Von diesem Trend seien nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch Parteien, Verbände und Vereine betroffen. Immer werde nur gefragt: "Was habe ich davon?" Diese Entwicklung sei bedenklich und müsse umgekehrt werden, sagte Schwan.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung vom Trio "Die UnbeSWINGbaren" und Jörg Brück. Für Essen und Trinken sorgte der Förderverein der des Löschzuges 1 der Freiwilligen Feuerwehr Steinebach. (rs)
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DGB-Kreisvorsitzender Frank Näckel begrüßte die Kolleginnen und Kollegen auf der Bindweide. Fotos: Reinhard Schmidt




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