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Kulturelle Vielfalt entstand durch offene Grenzen
Zum Auftakt der 9. Westerwälder Literaturtage nahm der Kulturhistoriker Hermann-Josef Roth die Kulturlandschaft des Westerwaldes unter die Lupe und informierte über die kulturellen und geographischen Besonderheiten der Region. Er räumte mit gängigen Klischees über den Westerwald auf und machte deutlich, dass der Westerwald einen ganz und gar untypischen Kulturraum darstellt. Anfang Juni wartet die nächste literarische Matinee.
Wissen. Die Organisatoren um Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil und das Team der Zukunftsschmiede Wissen konnten sich über einen gelungenen Auftakt zu den 9. Westerwälder Literaturtagen freuen. In der ersten von drei literarischen Sonntags-Matineen referierte der Kulturhistoriker Hermann-Josef Roth über das Thema "Räume, Wege und Grenzen des Westerwaldes". Roth gelang es auf unterhaltsame Weise, bekannte Klischees über den Westerwald richtig zu stellen und den Fokus auf die kulturhistorischen und geographischen Wurzeln dieses besonderen Kulturraumes zu richten. In vielen Publikationen hat sich der in Montabaur geborene Theologe und Naturwissenschaftler bereits mit dem Westerwald auseinandergesetzt. Er gilt als "der beste Kenner des Westerwaldes", wie ihn Ortheil in seiner Begrüßung würdigte, und dies stellte er im Kulturwerk in Wissen noch einmal eindrucksvoll unter Beweis.
"Das Besondere am Westerwald ist, dass er nichts Besonderes hat", sagte der Kulturhistoriker. Im Westerwald habe man jene Teile der Kulturen aus den angrenzenden Tallandschaften übernommen, die in die Region passten. Politisch und kulturell sei der Westerwald von den Nachbarregionen geprägt worden. Unter der Herrschaft der damaligen kirchlichen Landesfürsten wurde die Politik von den Erzbistümern aus Köln, Mainz oder Trier bestimmt. Willkürlich, wie beispielsweise zur Zeit Napoleons, sind im Laufe der Geschichte immer wieder die Grenzen des Westerwaldes verschoben worden. Heute ist er Bestandteil der drei Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Geographisch gehöre der Westerwald zum rheinischen Schiefergebirge und sei damit "ein Gebirge im Gebirge". Bis heute herrsche jedoch Unklarheit darüber, wo die Grenzen des Westerwaldes genau verlaufen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff "Westerwald" den Wald westlich des alten Königshofes von Herborn. Doch weder mithilfe von Flüssen, an denen stets große Siedlungsräume entstanden, noch Gebirge eignen sich laut Roth in diesem Fall für eine exakte Grenzziehung. Und auch das hohe Basaltvorkommen im hohen Westerwald sei keine Besonderheit allein dieser Region und daher kein Kriterium zur Abgrenzung. Für Roth stellt letztlich das Mittelgebirge als Teil des rheinischen Schiefergebirges zwischen den umliegenden Tallandschaften der Westerwald dar. "Wir sind weit davon entfernt, ein geschlossenes Bewusstsein von der Region zu haben", räumte der Kulturhistoriker ein, es existieren viele Vorstellungen vom Westerwald.
Eine Absage erteilte er der in letzter Zeit populären Wortschöpfung "Wäller". Angesichts dieser Neuschöpfung gehöre er nun zu den letzten Westerwäldern, die vom Aussterben bedroht seien, kritisierte Roth mit ironischem Unterton. Die Bezeichnung "Wäller" sei kein "historisch gewachsener Begriff" und entspringe nicht dem hiesigen Dialekt. Ebenso entspreche ein idyllisches Leben, wie es manche Bilder über den Westerwald skizzieren, nicht der Realität. An den Trachten, die im bäuerlichen Alltag getragen wurden, lassen sich die ärmlichen Verhältnisse ablesen. Dies verdeutlichte er anhand einiger Fotos in seinem Vortrag. Ein seltenes Foto zeigte ein älteres Ehepaar in traditioneller Festtagstracht, aufgenommen von Roth in den sechziger Jahren. Weiter machte er darauf aufmerksam, dass es keine Tradition gebe, sich als Westerwälder zu bezeichnen. Stattdessen habe man sich als Nassauer oder Rheinländer gesehen. Der kulturelle Einfluss der Nachbarregionen ist im Westerwald bis heute sichtbar. So sei das Kloster Marienstatt "durch und durch ein kurkölnisches Kloster", das von der umliegenden Kulturlandschaft abgekoppelt sei. Wiederum finde man im Raum Haiger eine Freskenmalerei, die man nur im östlichen Westerwald entdecke. Auch die Burg in Montabaur sei von fremden Handwerkern gebaut worden. Über Fern- und Handelsstraßen fanden unterschiedliche kulturelle Strömungen den Weg in den Westerwald und schufen diese einmalige Kulturlandschaft. "Ein kulturelles Zentrum hat es nie gegeben", resümierte Roth.
Im Rahmen der Westerwälder Literaturtage, die in diesem Jahr das Motto des rheinland-pfälzischen Kultursommers "Über Grenzen" aufgreifen, finden in naher Zukunft zwei weitere literarische Sonntagsmatineen statt. Am Sonntag, 6. Juni, 11 Uhr, hält Erwin Wortelkamp im Kulturwerk einen Vortrag über die Skulpturenanlage "Im Tal", die er in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern in Hasselbach verwirklicht hat. Zum Abschluss der Westerwälder Literaturtage liest der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil am 26. September, 11 Uhr, aus seinem Roman "Die Erfindung des Lebens" sowie aus seinem neuen Buch "Die Moselreise. Roman eines Kindes". Im nächsten Jahr sollen zum 10-jährigen Jubiläum der Westerwälder Literaturtage auch Veranstaltungen in Altenkirchen, Betzdorf und Hachenburg stattfinden. (Thorben Burbach)
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Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hieß die Zuhörer zu den 9. Westerwälder Literaturtagen willkommen. Fotos: Thorben Burbach
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