Interview aus der Europäischen Hölle
Der schwarze Abgrund. Das ist die Übersetzung des Wortes „Moria“ in der fiktiven Sprache, die der Autor J. R. R. Tolkien für sein literarisches Meisterwerk „Der Herr der Ringe“ erfunden hat und gleichzeitig einer der bösesten und schwärzesten Orte auf seinem fiktiven Kontinent Mittelerde. Der echte Ort Moria liegt auf der griechischen Insel Lesbos. Inzwischen ist er Synonym für die wohl größte Zerreißprobe der Europäischen Union: das Flüchtlingscamp Moria. Dort leben fast 20.000 Menschen, obwohl es nur für 3000 ausgelegt ist.
Daaden/Lesbos. Andrea Wegener aus dem Westerwälder Ortschaft Daaden ist in Moria. Sie leistet für die Organisation GAiN humanitäre Hilfe und erlebt den Kampf ums Überleben dort Tag für Tag hautnah mit. Im Gespräch mit der Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Westerwald, Nadine Bongard, spricht sie über die humanitäre Katastrophe im Camp Moria, über zynische Diskussionen und Menschen, die selbst am dunklen Abgrund noch menschlich bleiben.
Bongard: Sie waren an humanitären Einsätze im Irak und auf Haiti beteiligt, jetzt engagieren Sie sich im Flüchtlings-Hotspot Moria auf Lesbos. Warum tun Sie sich so etwas an?
Wegener: Schon während meiner Studienzeit habe ich ein Praktikum in Kenia gemacht und mein Herz für die Arbeit in Krisengebieten entdeckt. Nach dem Erdbeben im Jahr 2010 war ich in Haiti, und dann 2014 im Irak, als dort der IS sein Unwesen trieb. Dort habe ich gemerkt, dass ich – als relativ stabiler Mensch – bei krassen Ereignissen und Chaos schnell Strukturen schaffen und so einen Beitrag zur Verbesserung der Situation von Menschen in Not leisten kann.
Bongard: Sie arbeiten seit 2018 für GAiN bzw. den griechischen Partner EuroRelief auf Lesbos. Was ist Ihre Aufgabe im Camp?
Wegener: Ich habe die operative Leitung unserer Hilfsorganisation im Camp; dazu gehört, 1400 Helfer pro Jahr gut zu koordinieren. Mein Herz schlägt hier, ich liebe die Leute in Moria, ich liebe mein Team. Man kann hier trotz allem Frust und trotz der katastrophalen Umstände ja auch wirklich was bewegen. Den vielen freiwilligen Helfern möchte ich helfen, positive Erfahrungen zu machen.
Bongard: Nehmen Sie uns mal gedanklich mit ins Camp. Welche Probleme warten dort?
Wegener: Das kann alles Mögliche sein. Letzte Woche zum Beispiel wurde ein LKW mit Hilfsgütern von der Hafenpolizei aufgehalten. Angeblich seien die Hilfsgüter nicht systemrelevant. Das sind solche Machtspielchen unter den Behörden. Es dauerte sieben Tage, bis der LKW das Land wieder verlassen durfte.
Dann gab es Probleme wegen eines Mannes, der nach einem Aufenthalt in Athen zurück ins Camp kam und sich isolieren sollte. Isolieren? Unmöglich bei den beengten Verhältnissen hier.
Ein weiteres Beispiel: Einige Iraner wurden wegen eines Vorfalls, der sich an der iranisch-afghanischen Grenzen abgespielt hatte, hier im Lager von afghanischen Flüchtlingen bedroht. Wir haben versucht, die Iraner auf der Suche nach einer sicheren Unterkunft zu unterstützen. Die bedrohten Flüchtlinge wurden von der griechischen Polizei zum UNHCR und wieder zurückgeschickt, bis sie schließlich ihr Lager neben dem Polizeigebäude aufschlugen, von wo die Campleitung sie dann vertrieb. Niemand fühlt sich so richtig verantwortlich. Jeder einzelne Fall wird behandelt, als ob es das erste Mal wäre, und das frisst Zeit, Nerven und Energie.
Bongard: Wer vermittelt bei solchen Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen im Camp?
Wegener: Vor allem die Vertreter der Volksgruppen, die Community Representatives, bemühen sich um Ausgleich. Wir europäischen Helfer haben da wenig Einfluss. Wir in Europa stammen aus Kulturen, die durch Aufklärung und Humanismus geprägt sind, und durch die jüdisch-christliche Ethik mit dem Motto „Gewalt ist keine Lösung“. In den Kulturen, aus denen die Geflüchteten kommen, ist das manchmal anders. Die Community Representatives versuchen, „ihre“ Leute zur Ordnung zu rufen, oder greifen auch durch indem sie die Namen von Straftätern weitergeben. Oft müssen sie aber dann erleben, dass die griechische Polizei nichts macht. Und das sorgt nicht gerade für Zuversicht bei den Leuten.
Bongard: Sollte der Hotspot Moria Ihrer Meinung nach aufgelöst werden?
Wegener: Wir äußern uns gar nicht politisch. So krass würde ich das nicht fordern. Aber so wie es jetzt ist, ist es nicht menschenwürdig. Wie das Camp am Anfang gedacht war, für 3000 Leute wäre es OK. Nun ist es seit Langem überfüllt, und es gibt nicht wirklich einen Plan, es wieder zu entlasten, und daher kommen allermeisten Probleme hier. Irgendwo müssen die Leute ja bleiben! Und wenn wir sie nicht aufnehmen in Deutschland, was sollen die Griechen denn machen? Wir lassen die auch alleine, da bin ich auf Deutschland auch echt ein bisschen sauer.
Bongard: Was macht Sie denn so richtig wütend?
Wegener: Ich versuche wirklich, die Wut umzulenken in Empathie mit „unseren“ Leuten, den Geflüchteten im Camp. Weil ich sonst nur noch wütend bin, und dann kann ich nicht mit ganzem Herzen und meinem Kopf bei den Geflüchteten sein. Es macht mich traurig, dass in Deutschland endlos über 50 Minderjährige diskutiert wird. Ich sehe hier ja täglich die Jugendlichen in der Pubertät, die in ihrer Langeweile auf dumme Gedanken kommen, zu viel trinken und dummes Zeug machen. Ich denke ganz oft, wenn diejenigen, die über den Verbleib der Menschen entscheiden, hier mal zwei Tage im Camp mitarbeiten würden, mit den Jungs, dann würden sich viele Diskussionen ganz anders entwickeln. Ich bin nicht naiv: Es gibt auch welche, da kann ich mir schwer vorstellen, dass die sich reibungslos in die deutsche Gesellschaft integrieren würden. Aber so wie sie hier vegetieren müssen, das ist nicht human. Das kann es nicht sein.
Bongard: Stimmt es, dass im Camp überwiegend Männer leben?
Wegener: Nein, das ist gelogen. Wir von EuroRelief führen unter anderem die Belegungslisten und können daher recht genaue Statistiken über die Bewohner von Moria erstellen. Darin zeigt sich folgende Zusammensetzung: über 70Prozent sind Afghanen, 8 Prozent Syrer, 4 Prozent Somalis, darüber hinaus viele andere Herkunftsländer wie zum Beispiel Gambia, dem Irak oder Nigeria. Etwa 24 Prozent sind Frauen, 42 Prozent Kinder, davon die meisten unter 12 Jahre alt, tatsächlich leben hier nur 34 Prozent Männer.
Bongard: Angenommen, die Flüchtlinge würden auf europäische Länder verteilt und das Lager geräumt. Wäre es nicht innerhalb kürzester Zeit mit nachkommenden Geflüchteten wieder überfüllt?
Wegener: Ja, genau, das wäre sicher so. Lösungen müssen ganz woanders ansetzen, etwa in den Herkunftsländern. Für diese ganz großen Lösungen bin ich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Aber ich glaube, die Räumung des Lagers würde nicht den Pulleffekt auslösen. Auch wenn Moria bleibt, werden all diese Leute trotzdem kommen. Entweder wird Moria weiterwachsen und aus allen Nähten platzen. Oder es werden noch mehr der geflüchteten Menschen illegal deportiert – da passieren ja länger schon ganz schlimme Dinge. Oder die Menschen werden versuchen, auf das Festland zu gelangen, was auch immer. Die Menschen werden auf jeden Fall kommen. Alle haben einen guten Grund für ihre Flucht.
Bongard: Was können wir als Evangelische Kirche tun, um Sie und die Helfer dort auf der Insel zu unterstützen?
Wegener: Tatsachen über Moria bekanntmachen! Das sind Menschen, über die wir reden! Hier sind teilweise geflüchtete Ärzte oder Ingenieure, total begabte Leute, die aus nichts im Camp eine Infrastruktur bauen – total beeindruckend. Sie wünschen sich nichts weiter, als irgendwo ihre Ruhe zu haben und ihre Kinder zur Schule schicken zu können. Natürlich sind das nicht alles gute Menschen, genau wie überall. Aber es sind Menschen - Familien, Jugendliche. Wenn ich mir dann vorstelle, einer dieser unbegleiteten Teenager könnte mein Neffe sein – der ist auch gerade 16 Jahre alt – und muss jetzt in so einer Gruppe „Hooligans“ unter diesen furchtbaren Bedingungen lernen, was es heißt, ein Mann zu sein. Das ist sch… sorry! Was ihr tun könnt? Den politisch Verantwortlichen signalisieren, dass ihr hinter ihnen steht, wenn sie sich für Flüchtlinge einsetzen – in der Kommunalpolitik, im Bundestag oder wo auch immer. Die müssen den Rückhalt spüren. Und klar brauchen wir auch Spendengelder und freiwillige Helfer.
Bongard: Was hat sich durch Corona geändert?
Wegener: Die Bewohner hat der Lockdown hart getroffen. Die Grundspannung, die sowieso durch die Enge und hygienischen Verhältnisse da ist, hat sich erhöht. Die Aufrufe „Haltet Abstand!“ sind zynisch. Ein paar Maßnahmen gibt es immerhin: Um das Camp herum wurden inzwischen primitive aber effiziente Waschstationen aufgebaut. Wir haben in Zusammenarbeit mit den Ärzten die Hochrisikogruppe identifiziert, und die sollen jetzt aus dem Camp gebracht werden. Es ist eine große Erleichterung, zu wissen, dass diese Menschen in Sicherheit sind, bei denen schwere Verläufe bei einem Ausbruch zu erwarten wären. In meinem Blog habe ich auch folgenden Vorfall erwähnt: Die ersten 400 von meiner Organisation ausgewählten Migranten der Risikogruppe sind am letzten Wochenende Richtung Festland abgereist. Sie mussten dann aber zwei Tage im Bus ausharren – Einheimische hatten das Hotel angezündet, in dem sie eigentlich untergebracht werden sollten. Das macht die Frage, was aus den nächsten 1300 Vulnerablen werden soll, besonders spannend. Die wird ja niemand mehr aufnehmen wollen.
Bongard: Wo tanken Sie bei Ihrem schwierigen Job auf?
Wegener: Ja, es ist schwierig hier, aber ich möchte grad auch nirgendwo anders sein. Ich habe hier unheimlich widerstandsfähige Menschen kennen und schätzen gelernt. Als Christin habe ich den Vorteil, dass ich bei Gott andocken kann. „Meine Hilfe steht im Namen dessen, der Himmel und Erde gemacht hat.“ Es ist gut zu wissen, dass er die Menschen hier kennt und liebhat. Und an ihn kann ich mich wenden. Ich habe die Klagepsalmen für mich neu entdeckt. Wie die Psalmbeter kann ich Gott meinen ganzen Frust hinschmeißen.
Wir alle brauchen auch Pausen und mal Abstand vom Camp. Gerade das kommt durch den Corona-Lockdown zu kurz und ich merke, wie die Mitarbeiter und ich nach neun Wochen dünnhäutiger werden. Normalerweise verbringe ich nach drei Monaten einen Monat in Deutschland und in der Hälfte, nach sechs Wochen, einen Kurzurlaub auf der Insel. Durch Corona ist das alles nicht möglich und ich werde vermutlich bis August in Griechenland bleiben.
Bongard: Vielen Dank für Ihre Zeit und die Infos von der Insel Lesbos.
Andrea Wegener stammt aus Daaden im Westerwald, hat in Leipzig und Halle Germanistik studiert und 13 Jahre lang dort gelebt, bis sie 2007 bei Campus für Christus einstieg. Die letzten Jahre war sie dort Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit, hat nebenher aber jedes Jahr einige Wochen im Ausland praktisch mit angepackt. Ihre Bücher über ihre Erfahrungen in Haiti und im Irak erzählen davon. Campus für Christus hat sie an GAiN, den Partner in der humanitären Hilfe, "ausgeliehen". Seit November 2018 ist sie auf der Insel Lesbos und arbeitet unter der griechischen Hilfsorganisation „EuroRelief“ im Hotspot Moria. Seit Herbst 2019 hat sie die operative Leitung von „EuroRelief“ Arbeit im Camp. (shg)
Auf Lesbos arbeitet GAiN unter der griechischen NGO „EuroRelief", die unter anderem den Neuankömmlingen auf der Insel Unterkunft, Kleidung und Hygieneartikel zur Verfügung stellt. Weitere Informationen zu GAiN unter www.gain-germany.org/. IBAN: DE88 5139 0000 0051 5551 55, BIC VBMHDE5F, Verwendungszweck: Lesbos
Lesvossolidarity ist eine lokale Initiative, die seit 2012 auf der Insel arbeitet und in einem selbst organisierten Camp besonders verwundbare Gruppen Geflüchteter betreut. Spenden sind möglich über die Homepage via Paypal. Dann gibt es aber keine Spendenbescheinigung. Das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee (DMFK) bildet eine “Brücke” für Menschen, die eine Spendenbescheinigung wollen. Wer mit dem Vermerk “Lesvossolidarity” und der Angabe seines Namens und einer Adresse eine Spende über das DMFK macht, kann sicher sein, dass das Geld 1:1 weitergeleitet wird und bekommt eine Spendenbescheinigung nach deutschem Recht. Spendenkonto des DMFK auf www.dmfk.de
Außerdem upcyceln Einheimische und Geflüchtete für Lesvossolidarity gemeinsam Rettungswesten zu Laptoptaschen, die mit dem Stempel „SafePassage“ versehen werden und so auf den gefährlichen Fluchtweg über das Mittelmehr aufmerksam machen. Zu beziehen unter: lesvossolidarityshop.org/
Direkte finanzielle Hilfe zur Verbesserung der medizinischen Versorgung aller Menschen auf Lesbos:
Über die Schweizer Guido Fluri Stiftung haben Pro Asyl und die evangelische Kirche der Schweiz in Absprache mit dem Krankenhaus Mytilini Direktlieferungen von medizinischem Bedarf und Geräten angeleiert.
Nähere Infos: www.kath.ch/medienspiegel/bedrohung-corona-hilfsgueter-fuer-spital-auf-der-insel-lesbos/
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