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Nachricht vom 14.06.2021
Region
Ökosystem maßgeblich gestört - Schwarzgrünes Wasser in der Nister
Weite Strecken der Nister sind dort, wo die Kinder früher noch zum Baden und Planschen hinein gesprungen sind, nur noch tote Brühe. Die Selbstreinigung funktioniert nicht mehr ohne das komplexe Ökosystem unter Wasser. Die "ARGE" Nister setzt Hoffnungen in eine erste gezüchtete Muschelkolonie.
Nister: vier Kilometer unterhalb von Stein-Wingert ohne Fisch. Fotos und Video: Thomas SonnenscheinRegion. Im Millenium-Jahr 2000 wurde die Nister noch gefeiert als das artenreichste Fließgewässer in Rheinland-Pfalz. Nur drei Jahre später setzte das große Sterben ein, 2005 fiel der Artenreichtum steil ab und erreichte 2010 den traurigen Negativrekord von gerade mal neun überlebenden Arten.

Bis heute ist völlig unklar, weshalb urplötzlich im Jahr 2006 die Muschelbestände in der Nister zusammengebrochen sind. Bis auf drei intakte Muschelbänke sind alle Bestände innerhalb kürzester Zeit von 10.000 bis 20.000 Tieren je Kolonie auf weniger als 1.000 zusammengeschrumpft. Entsprechend schleppend läuft die natürliche Filterleistung. Ein Teufelskreislauf - besser noch eine Abwärtsspirale - setzte sich in Gang.

„Eine Eutrophierung wie jetzt aktuell, 2021, habe ich noch nicht erlebt“, mahnt Manfred Fetthauer aus Stein-Wingert, einer der Urväter des Vereins „ARGE“ Nister, der sich seit mehr als 20 Jahren für den Gesundheitszustand der Nister einsetzt. Als Eutrophierung bezeichnet man die Zunahme von Nährstoffen in einem Gewässer. Bei Fließgewässern spricht man von Nahrungsketten, nicht –kreisläufen, die alle gelöste Nahrung verwerten sollte, um die Wasserqualität auf einem guten Niveau zu halten. Wenn aber das Ökosystem ohnehin schon stark vorgeschädigt ist, wenn die Artenvielfalt nicht gegeben ist und die Populationen mancher Arten völlig aus dem Ruder laufen, dann hat die Nister einer steigenden Eutrophierung absolut nichts mehr entgegenzusetzen. Dies ist ohne weiteres vergleichbar mit dem System Mensch: Wenn das Immunsystem vorgeschädigt ist, haben es Krankheitserreger viel leichter, den Organismus anzugreifen. Mehr noch: Die Folgen sind viel schwerwiegender als bei einer gesunden Immunabwehr. In der Nister geschieht zur Zeit genau dies.

Das komplexe Ökosystem ist empfindlich gestört, ehe die genauen Zusammenhänge im Detail erforscht werden konnten. Das Verhältnis aus Räubern und Beutetieren hat sich drastisch geändert. Die Selbstreinigungssysteme scheinen allesamt zerstört zu sein. Der Klimawandel beschleunigt diese negativen Prozesse zwar, ist aber nicht ursächlich verantwortlich, denn der Zusammenbruch begann bereits, als der Klimawandel die Grenzwerte bei weitem noch nicht erreicht hatte.

Den zahlreichen, sehr engagierten Umweltschutzverbänden im Westerwald fehlt oft der erfahrene Einblick in die Zusammenhänge der Unterwasserwelten in der Nister, also bat die Landesregierung von Rheinland-Pfalz die „ARGE“ Nister, die sich eben auf diese Unterwasserwelten spezialisiert hat, vor drei Jahren um den Aufbau einer Zuchtstation für Bach- und Perlmuscheln. Bezuschusst wurde diese Station bislang mit Landesmitteln in Höhe von 100.000 Euro.

Seither betreibt die „ARGE“ Nister in Stein-Wingert in enger Kooperation mit der Universität Koblenz-Landau den natürlichen Nachbau einer Muzschelzucht in einer Fließrinne mit mehreren Aufwuchsbecken. Bei täglichem Wasserwechsel verändert sich das System von Rinne zu Rinne gemäß eines Luxemburger Pilotmodells. Bei optimaler Wassertemperatur von zwölf Grad wird das echte Nisterwasser trotz seines schlechten Zustandes verwendet. Tatsächlich ist es gelungen, mikroskopisch kleine Jungmuscheln in genügender Anzahl groß zu ziehen. Eine erste Muschelbank wurde aktuell an einem geheimen Ort in der Nister ausgesetzt, in der Hoffnung, langfristig die Selbstreinigungskräfte des Fließgewässers zu reaktivieren. Die Muschelnahrung in konzentrierter Form, die in der Aufzuchtstation verwendet wird, riecht derart streng, dass es keine Schande ist, wenn zarte Gemüter einen Würgereiz nicht unterdrücken können. Für die Muschel ist es ein wahrer Gaumenschmaus, für Mensch und Tier, für Pflanzen, Mikroben, für das Wasser selbst und sogar für die Luft sind diese Wesen eine unersetzbare Methode der Reinigung. Die kleinen Bachmuscheln erreichen nicht selten ein stolzes Alter von 48 Jahren, Perlmuscheln können sogar mehr als 89 Jahre alt werden. In all dieser Zeit filtert jede einzelne Muschel drei Liter Wasser pro Stunde und entzieht ihm Algen, toxische Stoffe und weitere Widerwärtigkeiten aller Art. Was im konzentrierten Muschelfutter derart stinkt, findet sich ohne lebende Muscheln bald auch hochkonzentriert in der Nister.

Auf zehn Kilometern wirken Muscheln wie ein Klärwerk
Manfred Fetthauer macht es ganz deutlich: „Eine gesunde Muschelpopulation auf zehn Kilometer Gewässerlinie filtert mehr Schadstoffe aus dem Wasser als ein Klärwerk.“ Die Spezialisierung der einzelnen Arten und die Komplexität der Zusammenhänge im Ökosystem mache eine erfolgreiche Instantsetzung der benötigten Bestände aber immens schwierig. So ist der Bitterling zur Sicherung seines Fortbestandes auf die Bachmuscheln angewiesen, die Muscheln wiederum setzen sich in einem entscheidenden Entwicklungsstadium an den Kiemen verschiedener Fischarten fest und lösen sich erst wieder, wenn sie sich in einem neuen Refugium ins Kiesbett graben können. Das Wirken einiger Fischarten in diesem Kreislauf ist bekannt, die Bedeutung anderer Arten ist noch immer nicht ganz geklärt. Bei intakten Fischbeständen allerdings setze die Selbstreinigungskraft des Wassers innerhalb von nur vier Wochen ein, konstatiert Fetthauer.

Bis es soweit ist, vor allem wie erfolgreich das kontinuierliche Auswildern der Muscheln sein wird, zeigt sich aber erst in ein paar Jahren. So wird die Perlmuschel beispielsweise erst nach 13 Jahren geschlechtsreif.

Merkwürdig an dem Muschelsterben seit 2006 ist, dass die Muscheln es sogar überlebten, als die Menschen noch völlig unbeeinflusst von allen Umweltschutz-Gedanken zwischen den 1950er und 70er Jahren Insektizide, die zum Teil reines E605 enthielten, in die Nister leiteten, als Abwässer noch völlig ungefiltert eingeleitet wurden und ätzende Schaumkronen durch die Strömung dahintrieben.

Der seither stetig steigende Konsum, der selbstredend auch genauso stetig sich steigernde Bodenerträge verlangt, führt zu einer kontinuierlichen Zunahme von Düngemitteln. Andererseits hat sich das Umweltbewusstsein der Landwirte verändert. Moderne Kunstdünger sind sehr viel umweltverträglicher als noch vor 30 Jahren, auch wenn es immer wieder zu Skandalen kommt. Viele Böden werden von den Bauern inzwischen rein ökologisch belassen, auch, um dem Bienen- und Insektensterben entgegen zu wirken.

Umgekehrt ist längst auch die Praxis im Westerwald angekommen, wonach nicht mehr Familien über die Nutzung der Böden entscheiden, sondern profitable GmbHs, die landwirtschaftliche Betriebe von einem angestellten Geschäftsführer leiten lassen; solche Betriebe werden mitunter sogar von der EU gefördert. Was dort in welchen Mengen in die Böden gelangt, ist nicht der Moral natürlicher Personen geschuldet, sondern der Moral juristischer Personen und natürlich der Rendite.

Parallel arbeiten unter der Federführung der SGD in Rheinland-Pfalz Kommunal- und Landesverbände daran, die Ziele der EU-Wasserrahmenrichtlinie zu erreichen. Grundsätzlich sei der Gedanke dieser Richtlinie richtig und wichtig gewesen. Aber, so gibt Fetthauer zu bedenken, diese Richtlinie hätte in den letzten Jahrzehnten mit der fortschreitenden Erforschung der Ökosysteme und den Resultaten aus den bisher umgesetzten Maßnahmen entsprechend geändert werden müssen.

Wer aber wirklich etwas verändern möchte, der lernt auch gerne dazu. Die Abteilung Fließgewässerökologie der Uni Koblenz wurde 2011 auf die Tätigkeiten der ARGE-Nister aufmerksam und Gewässerexpertin Daniela Mewes trat mit Rat und Tat in den Verein ein. Sie erweiterte das Wissen der aktiven ARGE-Mitglieder und erläuterte den Zusammenhang von Gewässerqualität und dem Kiesbett darunter. Die Universität setzte eine ganze Reihe von Untersuchungen um. Testprojekte unter überspannten Abschnitten in der Nister lieferten Erkenntnisse der Unterwasserwelt mit und ohne Fische. Sauerstoffsonden wurden in den Sedimenten verankert. Diese Verbindung von Erkenntnissen war ein wichtiger Meilenstein in den Rettungsbemühungen der ARGE-Nister. Tatsächlich gelang es daraufhin bis 2017 an mehreren geschützt liegenden Teststellen in der Nister einen vergleichbaren Artenbestand wie 1992 zu generieren. Gegen das Algenwachstum sind neben den Muscheln die Nasenfische ganz wichtig für das System. Sie weiden den Boden ab und verhindern so, dass den Kapillaren im Kiesbett durch die Algen der Sauerstoff entzogen wird. Andere Fische, kleine Monster, die sogenannten Groppen, fressen die Nasen und werden selbst von den Lachsen erbeutet. Bereits Jahre zuvor hatte sich die ARGE-Nister 2008 einen Namen gemacht mit dem Versuch, den Lachsbestand in der Nister künstlich wieder aufzufüllen. Ohne professionelle Filteranlage und vor allem ohne das heute vorhandene Verständnis für das komplexe Zusammenspiel der Arten, ist dieser Versuch trotz allem Herzblut, das in die gute Sache geflossen ist, gescheitert. Ohne ausreichende Lachsbestände hingegen vermehrt sich die Groppe. Früher hatte man Glück, wenn man nach 15 umgedrehten Steinen im Flussbett eine Groppe fand, heute ist es nicht ungewöhnlich unter jedem Stein gleich zwei Groppen zu finden. „Wenn es uns gelingt, die Bestände der Muschelbänke und der Nasen zu regenerieren, dann wird auch der Lachs wiederkommen“, prognostiziert Fetthauer.

Bundesweit sind alle Fließgewässer zweiter Ordnung betroffen
Dr. Jörg Schneider von der Bürogemeinschaft für Fisch- und Gewässerökologische Studien in Frankfurt ist es zu verdanken, dass die Fischbestände zwischen dem Kloster Marienstatt und der Nistermündung in die Sieg wissenschaftlich gesichert in den vergangenen 21 Jahren immer wieder gezählt wurden.

Die aktiven Mitglieder der „ARGE“ Nister unterstützten ihn dabei, ebenso Dr. Carola Winkelmann von der Universität Koblenz-Landau. Winkelmann betreibt in Stein-Wingert sogar ein kleines Labor.

Manfred Fetthauer zählt noch etwas anderes: Das Aufkommen invasiver Arten und deren Einflüsse auf die heimischen Ökosysteme sind ja schon lange in der öffentlichen Diskussion. In den 1990er Jahren wanderte der Kormoran in den Westerwald ein. Dieser hochintelligente Raubvogel hat sich auf effizienten Fischfang in der Gruppe spezialisiert. Untersuchungen in der Wied ergaben bereits in den Jahren 1992 bis 1994, also noch vor Einsetzen der Wasserrahmenrichtlinie, nach Ansiedelung von rund 600 Kormoranen eine drastische Reduktion der Fischbestände. Obduktionen ergaben, dass jeder einzelne Kormoran täglich rund 100 kleine Fische verzehrt.

Diesen Zusammenhang untersucht Fetthauer bis heute. Es sei schlimmer geworden. Früher hätte die Ausgewogenheit des Räuber/Beute-Verhältnisses dazu geführt, dass die Kormorane weiter gewandert wären, wenn das Fressangebot weniger wurde. Heute sei bundesweit aber kein einziges der Fließgewässer zweiter Ordnung mehr im Griff. Als zweite Ordnung werden Bäche oder Flüsse verstanden, wenn sie aus mehreren Quellgewässern (erste Ordnung) gespeist werden. Die Große Nister ist definitionsgemäß also ein solches Fließgewässer. Und es sieht übel aus. Nicht nur in der Nister. Auch die Wied hat zu leiden, ist völlig verseucht durch eine explodierende Population von Signalkrebsen. Der Holzbach bei Dierdorf ist völlig tot und stellenweise derart verdreckt, dass es ad hoc unmöglich ist, dort Fische auszuwildern.

Die Raubvögel wandern also nicht weiter, denn es gibt kein neues Revier mit vollen Beständen mehr. Jeden Morgen nach Sonnenaufgang zählt Fetthauer die Vogelschwärme und ermittelt für das laufende Jahr 2021 alleine um Stein-Wingert mehr als 1.300 Kormorane, die ihr Fressen in der Nister suchen, natürlich genau dort, wo es der „ARGE“ Nister punktuell gelungen ist, fast 70 Prozent des Sollbestandes wieder aufzufischen. Der Teilerfolg ist dadurch massiv gefährdet.

In der Quintessenz zeigt sich, wie einzigartig und sensibel die Ökosysteme funktionieren und wie wichtig jede einzelne Art für das Zusammenspiel des Ganzen ist. Es zeigt sich aber auch, dass es noch Jahre dauern wird, ehe die Westerwälder wieder stolz auf die heimische Gewässerqualität sein können. Und dies auch nur dann, wenn es weiterhin Menschen gibt, die sich mit all ihrer Energie für die Nister einsetzen, bis die Selbstreinigungskräfte wieder funktionieren. (Thomas Sonnenschein)


Ein Blick in das Wasser der Nister



 
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