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Nachricht vom 11.02.2009 |
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Region |
Drei Jahre und ein Tag auf der Walz |
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Seit zweieinhalb Jahren ist der 23-jährige Tischlergeselle Sven Reiner aus Osterholz-Scharmbeck auf der Walz. Damit hat er noch ein halbes Jahr vor sich. Jetzt machte er im Hammer Rathaus bei Bürgermeister Rainer Buttstedt "schmal". |
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Hamm. Sie sind nicht zu übersehen. Die rechtschaffenen, fremden Gesellen erkennt man sofort an ihrer Kluft. Die Tradition auf die "Walz" zu gehen, stammt aus dem Mittelalter. Drei Jahre und ein Tag dauert die Wanderung. Am Montagmorgen sprach im Hammer Rathaus mit dem 23-jährigen Sven Reiner ein aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck gebürtiger Tischlergeselle vor, der sich seit zweieinhalb Jahren auf der Walz befindet. "Jeder Tag ist etwas besonderes, man sieht und trifft viele Leute, die einen auf die Jahrhunderte alte Tradition ansprechen." Die wandernden Gesellen sind eine Vereinigung von gleichgesinnten Bauhandwerkern, die in die Welt hinausziehen, um sich mit Bräuchen, Lebensgewohnheiten und Arbeitspraktiken anderer Völker und Menschen vertraut zu machen und dabei in guten und schlechten Zeiten fest zusammenhalten. Sie wollen sich in erster Linie auf praktische Weise weiterbilden und dabei zwischenmenschliche Beziehungen auf der Grundlage des Völkerverständigungs-Gedankens pflegen. Sie sammeln somit ungezwungen und zum großen Teil auch unbewusst viele Erfahrungen. Bei einer Stippvisite im Hammer Rathaus ging Tischler Sven Reiner kurz auf die mit Abstand älteste noch existierende deutsche Zunft ein. Sie pflegt die ältesten überlieferten Riten und zwar getrennt für das Maurer- und Steinhauerhandwerk und die Zimmer- und Schieferdeckergesellen, so wie sie vor Jahrhunderten entstanden und im Laufe der Jahre gewachsen sind.
Sven Rainer zog am 14. Mai 2006 in Bremen startend auf die Walz. Sein Weg führte ihn vom Norden bis in den Süden Deutschlands und dann in die Schweiz. Von dort ging der Weg wieder zurück und quer durch sein Heimatland bis hinauf nach Dänemark. Zur Zeit befindet sich der Wandergeselle auf dem Weg nach Mannheim, wo nach drei Jahren und einem Tag die Wanderschaft beendet werden soll. Stets dabei hat der "fremde Gesell" sein Wanderbuch, in das alle Stationen eingetragen werden. Das Motto lautet: "Wer soll Fremder sein? Ein treuer Mann. Wer soll Geselle sein? Der was kann. Wer soll Meister sein? Der was ersann."
Bereits im Mittelalter zogen Handwerksgesellen jahrelang von Ort zu Ort, um zu arbeiten und neue Techniken zu erlernen. Damals waren die Wanderjahre sogar Bedingung, um den Meister zu machen. Heute ist die Walz freiwillig. Losgehen darf aber nur, wer die Gesellenprüfung bestanden hat, jünger als 30 Jahre, unverheiratet und unverschuldet ist. Die Handwerksgesellen, die auf die Walz gehen, dürfen drei Jahre und einen Tag nicht näher als 50 Kilometer an ihren Heimatort herankommen. Ausnahmen sind nur scherwiegende Vorkommnisse wie schwere Krankheit oder Tod von Angehörigen. Den reisenden Gesellen erkennt man sofort an seiner Kluft, die während der dreijährigen Reisezeit auf der "Tippelei" und bei der Arbeit stets getragen wird. Typisch, vor allem bei den Zimmer- und Tischlerleuten, ist der breitkrempige Hut. Der wird getragen, um zu verhindern, dass beim Arbeiten über Kopf Sägespäne in den Kragen fallen. Die Schlaghosen dienen einem ähnlichen Zweck, sie sollen die Schuhe von Sägemahl freihalten. Richtig zünftig ist die Hose nur, wenn sie einen Schlag von 65 Zentimetern vorweisen kann. Die Kleidung ist aus Cord, da von diesem Material Sägemehl besonders leicht zu entfernen ist. Das kragenlose Hemd nennt sich "Staude". Die darüber getragene Weste hat acht Knöpfe. Sie symbolisieren acht Sunden Arbeit täglich. Die Jacke des Gesellen hat sechs Knöpfe als Symbol für sechs Tage Arbeit pro Woche. Der "Schlips" heißt im Gesellenjargon "Ehrbarkeit". Die Farbe ist die jeweilige Zunftfarbe. Die "Ehrbarkeit“ wird nur lose in den Kragen gesteckt. Der "Charlottenburger" oder "Berliner" ist keine Frikadelle im Brötchen oder ein Krapfen, sondern ein zirka 80 mal 80 Zentimeter großes Tuch, in das die Besitztümer des Gesellen verpackt sind. Das Tuch ist gewöhnlich mit dem Zunftzeichen des Gesellen bedruckt. Aus diesem Tuch und seinem Inhalt formt der Geselle eine cirka 30 Zentimeter dicke und 70 Zentimeter lange "Wurst". Seine Habseligkeiten trägt der Wandergeselle immer bei sich, eingewickelt in diese "Wurst". Dazu gehören Klamotten und das persönliche Werkzeug des Gesellen. Der spiralige Wanderstab des Gesellen wird von ihm selbst hergestellt und heißt im Zunftjargon "Stenz". Es handelt sich dabei um einen Stock, um den spiralförmig Schlingpflanzen eingewachsen waren. Zudem trägt der Geselle einen Ohrring. Früher war der aus Gold, um aus dem Erlös im Falle eines Falles ein ordentliches Begräbnis bezahlen zu können. Der Ohrring beinhaltet neben dem Handwerkswappen noch einen sechszackigen Stern, da angeblich der erste Maurer ein Verehrer des jüdischen Königs Salomo gewesen sein soll. Verhielt sich ein Geselle "unzünftig", wurde ihm der Ohrring aus dem Ohrläppchen gerissen. Zünftig erkannte man ihn dann gleich als "Schlitzohr". Das Vorsprechen der Wandergesellen um Arbeit oder Wegzehrung nennt man "Schmalmachen“. Der Wandergesell kann reisen wohin und arbeiten wo er will. (Rolf-Dieter Rötzel)
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Foto: Einen kurzen Stopp zum "Schmalmachen“ legte der sich auf der "Walz" befindliche Tischler Sven Reiner bei Bürgermeister Rainer Buttstedt im Hammer Rathaus ein. Foto: Rolf-Dieter Rötzel |
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Nachricht vom 11.02.2009 |
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