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Nachricht vom 07.09.2020
Region
DGB-Vorsitzender im Kreis: Die Pandemie als Chance begreifen
Ist die medizinische Versorgung in erster Linie Daseinsvorsorge oder ein ganz normales Geschäftsfeld privater Unternehmerinnen und Unternehmer? Die Pandemie bringt an den Tag, dass die Schnittstellen zwischen gesundheitsamtlicher Prävention und Gefahrenabwehr auf der einen und kurativer Tätigkeit der niedergelassenen Fachärzte für Allgemeinmedizin auf der anderen Seite der Klärung bedürfen. Wer hat welche Aufgaben und wer bezahlt dafür? Das sind Fragen, die für die Zukunft geklärt werden müssen. Anmerkungen von Bernd Becker, DGB-Vorsitzender im Kreis Altenkirchen.
Es gibt Verbesserungsvorschläge und Perspektiven, nicht nur zur Bewältigung von Pandemien oder Seuchen.

Kurzer Blick zurück
Aktuell melden sich Viele zu Wort, die hinterher alles besser wissen und das Pandemiemanagement in Deutschland kritisieren. Fragwürdige und extreme Gruppierungen versuchen zunehmend, aus den Sorgen und Nöten der Menschen politischen Profit zu schlagen und stellen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage. Bereits im Mai hat der Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Kreis Altenkirchen hingegen ein positives Zwischenfazit gezogen und u.a. konstatiert:

Die in Deutschland getroffenen Maßnahmen der Risikominderung, der Kontaktbeschränkung und der medizinischen Vorsorge waren offenbar wirkungsvoll und haben bislang eine drohende Überforderung des Gesundheitswesens verhindert.

Im Vergleich zu anderen Ländern, wie Frankreich, Italien oder Spanien waren die unter der Überschrift „Lockdown“ getroffenen Maßnahmen behutsam und moderat. Zentrales Beispiel: Kontaktbeschränkung statt Ausgangssperre.

Durch die Regelungen zur Kurzarbeit und Kurzarbeit-Null wird in Deutschland ein gravierender Anstieg der Arbeitslosigkeit vermieden. Die „schwarze Null“ der öffentlichen Haushalte tritt zurück hinter den Zielen, Menschenleben zu schützen und die wirtschaftlichen Folgen aufzufangen.

Die Krisenkommunikation durch die Bundes- und Landesregierung hat die Menschen gut vorbereitet und mitgenommen. In der absolut überwiegenden Mehrheit haben die Menschen sich hochgradig diszipliniert und solidarisch verhalten. In einigen Bereichen und Berufsgruppen wird in aufopfernder Weise Großartiges geleistet.

Bei der stufenweisen Rücknahme der Kontaktbeschränkungen wird klar: Die Zuständigkeit liegt bei den Ländern und den Gesundheitsbehörden. Und das ist gut so, damit auf regionale Entwicklungen schnell reagiert werden kann. Das Land definiert den Rahmen und stellt zusätzliche Ressourcen bereit.

Diese Einschätzungen sind auch heute noch richtig. Aber der Weg aus der Krise scheint schwieriger zu sein, als der Weg hinein. Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen sind gefordert, immer wieder die vielschichtige Vorgehensweise zu erklären und um Vertrauen zu werben.

Gangbare Wege gefunden
Im Kreis Altenkirchen sind ganz offensichtlich gangbare Wege zur Bewältigung der Pandemie gefunden worden. Das Gesundheitsamt wurde – insbesondere zur Bewältigung der Nachverfolgung und der Kommunikationsarbeit – verstärkt, es wurden zeitgerecht Fieber- oder Corona-Ambulanzen eingerichtet und die Kommunikation nach außen und innerhalb der kommunalen Familie wurde allseits gelobt. Es gab schnell eine finanzielle Unterstützung durch das Land.

Unterschiedliche Interessen
Zuletzt gab es aber eine öffentliche Auseinandersetzung zu der Frage, wer denn für die Gratis-PCR-Tests für Reiserückkehrer zuständig sei. Laut Verordnung des Bundesgesundheitsministers sind es die „niedergelassenen Ärzte“. Das sahen aber etliche Ärzte ganz anders und verwiesen die Hilfesuchenden an das Gesundheitsamt, was wiederum den Landrat auf den Plan rief, der klarstellte, dass die „niedergelassenen Ärzte“ und die Kassenärztliche Vereinigung zuständig seien. Und selbstverständlich seien unter dem Begriff der „niedergelassenen Ärzte“ die Allgemeinmediziner zu verstehen und nicht Fachärzte für Augenheilkunde oder sonstige Spezialgebiete. Der Landrat hat aber trotzdem seine Unterstützung zugesagt und ein zentrales Testzentrum in Aussicht gestellt, das derzeit in Hamm Gestalt annimmt. Die bis dato – 4. September – letzte Wortmeldung zu dem Thema kommt jetzt wieder aus den Reihen der Ärzte. Der Obmann der Kreisärzteschaft fordert die Patienten auf, mit dem Wunsch nach Testung den jeweiligen Hausarzt aufzusuchen und nicht das Testzentrum. Der Hintergrund wird auch deutlich: Es geht um ärztliche Leistungen, die sich in Umsatz und Einkommen niederschlagen.

Eine wirklich vorbildhafte Lösung hat der Kreis Altenkirchen auch zu bieten: Die Gebhardshainer Gemeinschaftspraxis hat am 31. August eine „Corona-Ambulanz“ für ihre Patienten in Betrieb genommen. Die Räumlichkeiten stellt die Ortsgemeinde Gebhardshain zur Verfügung. „Es ist gut, wenn man agieren kann und nicht reagieren muss“, wird dazu Dr. Erik Becker in der Presse zitiert. Hier arbeitet eine innovative Gemeinschaftspraxis zielführend und eng mit der Kommune zusammen und gibt womöglich ein Beispiel für künftige Regelungen.

Keine dauerhafte Lösung
In der akuten Situation werden Lösungen gefunden, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln mal mehr und mal weniger Beifall erhalten. Wir sollten uns aber nicht auf Dauer und für alle Zukunft in vergleichbaren Lagen auf die mehr oder weniger ausgeprägten Fähigkeiten zur Improvisation verlassen. Deswegen gibt es den Auftrag an den Kreis, eine Pandemieplanung zu erstellen und auf Landesebene ist die Diskussion aufgemacht worden, welche organisatorischen und ablauforganisatorischen Schlussfolgerungen aus der Pandemie zu ziehen sind, beispielsweise ist die Rede von der Einrichtung eines Landesgesundheitsamtes. An der Stelle darf auch angemerkt werden, dass die Gesundheitsämter zwar seit einigen Jahren organisatorisch in die Kreisverwaltungen eingegliedert sind, dort aber staatliche Aufgaben wahrnehmen.

Gesundheitswesen als Teil der Daseinsvorsorge
Ich für meinen Teil empfinde es schon geraume Zeit als seltsam, dass es zwischen niedergelassenen Ärzten und dem Gesundheitsamt im Grunde kein direktes Verhältnis gibt. Die Ärztinnen und Ärzte sind in ihrer Berufsausübung lediglich an ihren Eid und das Standesrecht – administriert durch die Landesärztekammer - gebunden. Nach einer gesetzlichen Grundlage für eine Dienst- oder Fachaufsicht oder gar eine Weisungsbefugnis durch die Gesundheitsämter gegenüber den niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen sucht man vergeblich. Gefunden hat man damit aber womöglich eine Ursache für die oben beschriebenen Meinungsverschiedenheiten und Unklarheiten. Es fehlen klare Verhältnisse und ein Selbstverständnis aller Gesundheitsakteure Teil der dem Allgemeinwohl verpflichteten Daseinsvorsorge zu sein.

Lösungsansatz: „Sprengelärzte“ nach österreichischem Muster?
An der Stelle will ich es zugeben: Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten beruflich und in meiner Gewerkschaft mit kriminalpolizeilichen Fragestellungen und mein Zugang zum in Rede stehenden Thema ist seit vielen Jahren die „ärztliche Leichenschau“, die nach meiner festen Überzeugung den Ansprüchen, die wir an einen zivilisierten Rechtsstaat haben sollten, nicht gerecht wird.

Exkurs zum Hintergrund: Die Wissenschaft geht davon aus, dass jedes Jahr in Deutschland etwa 3000 unnatürliche Todesfälle unentdeckt bleiben, davon etwa ein Drittel Tötungsdelikte. Die Durchführung vorschriftskonformer Leichenschauen an der entkleideten Leiche, mit Inspektion aller Körperöffnungen, dürfte Seltenheitswert haben. Bis zu 80 % aller Todesbescheinigungen sind fehlerhaft ausgefüllt, etwa weil die Begriffe der Todesart und der Todesursache falsch interpretiert werden oder der Name des Arztes nicht lesbar ist. Immer wieder gibt es deswegen wenig erbauliche Diskussionen zwischen dem todesfeststellenden Arzt oder der Ärztin und der Polizei. Exkurs Ende.

Dieser laxe Umgang mit der Frage, ob ein Tod natürlich oder unnatürlich war, ist im internationalen Vergleich ziemlich einmalig. Nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema halte ich das österreichische Modell der Sprengel- oder Gemeindeärzte für wirkungsvoll und übertragbar. In Österreich gibt es auf gemeindlicher Ebene Ärztinnen und Ärzte, die über epidemiologische und rechtsmedizinische Kenntnisse und Fertigkeiten (vorgeschriebene Fortbildung) verfügen. Es handelt sich um niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die für diese Funktion im Nebenamt amtlich bestellt und verpflichtet werden. Sie bilden den verlängerten Arm des Gesundheitsamtes in der Region und wirken laut Gesetz bei der Pandemie- und Seuchenbekämpfung mit. Im Bundesland Salzburg ist rechnerisch ein solcher Gemeindearzt für etwa 8.000 Einwohner zuständig, was bei einer Sterbequote von knapp unter 1 % etwa 80 Leichenschauen p.a. ausmacht. Für Krankenhäuser gibt es besondere Regelungen.

Warum dieser Hinweis gerade jetzt?
Gemeindlicher „Amtsärzte“ im Nebenamt mit entsprechender Qualifikation und Erfahrung wären integraler und wichtiger Bestandteil der Pandemiebewältigung. In Zeiten außerhalb der Pandemie könnten sie entscheidend zur Qualität der ärztlichen Leichenschau beitragen. Initiativen wie die der Gemeinschaftspraxis Gebhardshain liefern eine erste – noch verschwommene – Blaupause für mögliche Entwicklungen. Das stimmt hoffnungsvoll.

Hoffnung gibt es auch auf Landesebene, denn Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat bereits im Oktober 2019 auf das Ansinnen der Gewerkschaft der Polizei (GdP) reagiert und eine interministerielle Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, in der neben dem Gesundheitsministerium auch die Ministerien für Justiz, Inneres und Wissenschaft sowie der Präsident der Landesärztekammer vertreten sind. Auch die Initiatoren – die Chefin der Mainzer Rechtsmedizin, der Leiter des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen und ich für die GdP - wirken in der AG mit. Diese Arbeitsgruppe wird für das Thema ärztliche Leichenschau Verbesserungsvorschläge generieren, zum Beispiel ist eine digitale Todesbescheinigung mit hinterlegten Plausibilitätsprüfungen vorstellbar. Entscheidend wird aber die Frage sein, ob der politische Wille entsteht, rechtlich und organisatorisch aktiv zu werden. Ich bin mir sicher, dass die Pandemie auf allen politischen Ebenen auch als Chance begriffen wird.“

Bernd Becker, DGB-Vorsitzender im Kreis Altenkirchen
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