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Nachricht vom 30.10.2020
Kultur
Eva Mattes in Wissen: Die Menschheit hat den Verstand verloren
Eigentlich war es ein trauriger Abend am Mittwoch, 28. Oktober, im Kulturwerk in Wissen. Die neuen Corona-Beschränkungen bedeuten gleichzeitig das Ende der Lesungen im Rahmen der 19. Westerwälder Literaturtage in diesem Jahr. Trotzdem war Maria Bastian-Erll, die Organisatorin der WW-Lit stolz, und das zu Recht. Als ganz besonderen Schlusspunkt konnte sie Eva Mattes in Wissen begrüßen.
Eva Mattes bei ihrer Lesung im Kulturwerk (Fotos: ma)Wissen. Die berühmte Schauspielerin und Sängerin wurde vielfach ausgezeichnet für ihre Film- und Bühnenrollen, die unter anderem als Tatort-Kommissarin Klara Blum ein Millionenpublikum erreicht hat. Für die musikalisch-szenische Lesung aus den Tagebüchern Astrid Lindgrens unter dem Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren“, wurde sie in Wissen mit stehenden Ovationen für ihren Auftritt gefeiert.

Mit warmer, wandlungsfähiger Stimme, ohne Pathos und emotionale Übertreibung, las Eva Mattes aus Lindgrens Tagebüchern von 1939 bis 1945 vor und vermittelte dabei den Zuhörern eine ungewöhnliche Sichtweise auf den zweiten Weltkrieg. Begleitet wurde sie von dem herausragenden Akkordeon-Virtuosen und Pianisten Darius Swinoga. Eines der populärsten Volkslieder in schwedischer Sprache „Vem Kann Sagla“, war der wunderbare Einstieg in einen emotionalen Abend.

Jahre bevor Astrid Lindgrens Kinderbücher entstanden, schrieb sie ihre Gedanken über das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts in ihren Tagebüchern nieder und dokumentiert anschaulich: „Die Menschheit hat den Verstand verloren“. Der Zuhörer merkt, die Gedanken handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Lindgren hat mit ihren Geschichten den Blick auf die Welt verändert und die Kindheit von Generationen nach dem 2. Weltkrieg geprägt. Vor Ausbruch des 2. Weltkriegs hat sie dessen Verlauf, seine wechselnden Fronten und das Leid, das er bei so vielen Menschen auslöste, in ihren privaten Aufzeichnungen festgehalten und teilt sie mit den Lesern. Astrid Lindgren ist bei Ausbruch des Krieges Ehefrau und Mutter eines Sohnes im Teenageralter und der fünfjährigen Tochter Karin, mit deren Vater Sture Lindgren sie verheiratet war. Die Familie lebte in Stockholm in Schweden, dessen neutraler Status das Land vor der brutalen Gewalt des Krieges bewahrte. Allerdings erreichte der Krieg Finnland und Dänemark und kam damit Lindgrens Heimat sehr nahe, was die Versorgung der Schweden mit lebensnotwendigen Gütern einbrechen ließ.

Lindgren arbeitete als Büroangestellte und ab Herbst 1940 in der Postkontrollanstalt, der Briefzensur des schwedischen Geheimdienstes, was ihr ganz persönliche Eindrücke über die Auswirkungen des Krieges auf die von den Deutschen besetzte Länder vermittelte. Sie las Abschiedsbriefe, schrieb sie heimlich ab und fügte sie in ihr Tagebuch ein. Sie schrieb, um sich zuverlässig erinnern zu können, auch an die Judenverfolgungen, Deportationen und Ghettos im besetzten Polen.

Die Lesung der Kriegstagebücher im Kulturwerk wechselte ab mit Liedern vom Widerstand in den besetzten Ländern, Wiegenliedern, und Liedern, die an das Leid der jüdischen Bevölkerung erinnern. „Lili Marleen“, die Melodie welche unvergesslich mit dem 2. Weltkrieg verbunden ist, sang Eva Mattes in vier verschiedenen Sprachen, einfühlsam begleitet von Darius Swinoga, mal am Piano, mal auf dem Akkordeon.

Als Gegenpol zu der düsteren Geschichte gab es einen heiteren Gastauftritt von Pippi Langstrumpf. Mattes las aus „Pippi geht zur Schule“. Als 14-Jährige nahm Eva Mattes den Titelsong der deutsch-schwedischen Fernsehserie „Pippi Langstrumpf“ auf. Der wurde Mittwochabend im Kulturwerk abgespielt und die Schauspielerin sang temperamentvoll mit.
Eva Mattes sang auch „Thula, Thula“, ein Wiegenlied aus Südafrika, gewidmet den Kindern unter den 65 Millionen Emigranten, die heute weltweit auf der Flucht sind, bevor ein emotionaler, unter die Haut gehender Abend seinen Abschluss fand mit dem Lesen des Eintrags im Tagebuch von Astrid Lindgren am 7. Mai 1945: „Der Krieg ist aus, der Krieg ist aus, der Krieg ist aus. Man kann nicht alle Deutschen hassen, man kann sie nur bedauern“.
Mit dem Titelsong des gleichnamigen Films mit Hans Albers „Und über uns der Himmel“, der als erster deutscher Nachkriegsfilm in der amerikanischen Besatzungszone gedreht wurde und 1947 durch die Militärzensur der Alliierten freigegeben wurde, verabschiedeten sich Eva Mattes und Darius Swinoga von ihren begeisterten Zuhörern. (ma)
     
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